Certina DS vs. Tissot Seastar (1960er)

Allgemeine Diskussionen rund um Vintage-Uhren (Oldtimer)
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Albert H. Potter
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Re: Certina DS vs. Tissot Seastar (1960er)

Beitrag von Albert H. Potter »

Omega und Longines gehören beide zur Swatch-Group. Innerhalb der Gruppe sind die Marken unterschiedlich positioniert.
Während man Omega im oberen Segment der Marken ansiedelt, ist Longines heute im mittleren Segment.
Betrachtet man sich die Marke Longines genauer, bekommt man das Gefühl, daß man bei der Swatch Group nicht viel mit dem Erbe der Marke anfangen kann oder will. Wohl auch um Konkurrenz zu vermeiden.
Früher war Longines eine Marke, die deutlich besser positioniert war. Und, wie auch Eterna, weit über Tissot angesiedelt war.

Ob es sich lohnt für die eine oder andere Uhr mehr Geld auszugeben, muß jeder für sich entscheiden.
Das Preisniveau enier Marke kann sich schnell ändern, wenn das Marketing einer großen Gruppe dahinter steht.
Als die Aufwertung der aktuellen Marke Omega beschlossen wurde, besann man sich der großen Vergangenheit.
Mit der Auktion OmegaMania (beim gleichen Auktioshaus wie damals schon die legendäre Swatchissimo-Auktion), die auf der Baselworld übertragen würde und für die sämtliche Omega-Händler mit Katalogstapeln eingedeckt wurden, wurde das Preisniveau der alten Stücke stark nach oben gepusht. Der Rückkauf von Ersatzteilen von ehemaligen offiziellen Teile-Händlern, sorgt dafür daß künftig nur noch Omega die alten Stücke reparieren, ähm restaurieren kann - zu Manufaktur-Preisen.
Das nennt sich Markenpflege.

Die Welle, die Omega damit ausgelöst hat, sorgte dafür, daß praktische jede RANZGURKE ein lohnenswertes Projekt wurde. Es wurden Uhren aus Werktischen und Schubladen hervorgekramt, deren Schicksal das Ausschlachten oder die Azubi-Übung war. Es lohnt sich, jeden Omega-Schrott irgendwie zum tickeln zu bringen und mit dem Hinweis auf die Revisionsbedürftigkeit zu verscheuern, Hauptsache die Unruh wackelt noch aus eigener Kraft vor sich hin.
Lohnt es sich unter diesen Umständen bei dieser Marke einzusteigen? Aus meiner Sicht nicht.

Wie schon erwähnt, ist es mit der Markenpflege bei Longines nicht so weit her. Hier kann man gelegentlich noch ordentliche Stücke zu fairen Preisen finden.

Es gibt einige Marken, die noch relativ unterbewertet sind obwohl die Stücke teilweise sehr hochwertig sind. Eterna, Movado und Universal gehören dazu. Einstmals große Marken mit teilweise wunderbaren Uhrwerks-Konstruktionen.
Es findet sich eigentlich immer eine Alternative. Vielleicht anstelle einer Longines nach einer heute etwas unbekannteren Wittnauer schauen. Oder eine Marvin statt einer Tissot.
Die Ersatzteillage ist für all die alten Stücke ähnlich problematisch.
Wenn eine aktuelle "Manufaktur" die Kralle auf den Teilen hat, dann ist man gezwungen deren Preise zu bezahlen. Da es sich um alte Uhren handelt, bewegt man sich bei den Preisen auch nicht mehr im Bereich der Service-Preislisten für die aktuellen Modelle. Nein, hier muß der Spezialist restaurieren. Lohnt es sich eine alte J-LC im verchromten Gehäuse mit dem vergleichsweise billigen Manufaktur-Militär-Kaliber für einen vierstelligen Betrag restaurieren zu lassen? Muß jeder selbst entscheiden...

Fast alle Marken haben in der Vergangenheit eine Palette von Qualitäten angeboten. Auch J-LC, auch Omega, auch Girard-Perregaux....
Vergoldete oder verchromte Gehäuse deuten nicht auf Hochwertigkeit.
Ein Omega Kaliber 30T2 findet sich sowohl in einer Einfach-Militäruhr, als auch als Chronmeter Variante oder auch als unscheinbares, individuell getrimmtes Observatoriumswerk. Zwischen den Werken liegen Welten in Bezug auf die Qualität.
Lohnt es sich einen Mehrpreis auszugeben, wenn man noch nicht das Wissen hat, um die Qualtitäten zu unterscheiden?
Lohnt es sich einen Mehrpreis auszugeben, wenn nur der Uhrmacher die hochwertigen Details sehen und erkennen kann und man sich diese vielleicht nur an Bildern im Internet erschließen kann?

Ich halte es für wichtig, daß sich ein Sammler seine eigenen Kriterien für Qualität und Sammelwürdigkeit entwickelt und danach seine Kaufentscheidung abwägt. Das A&O ist, auf dem Weg dorthin nicht zuviel Geld zu verbrennen.
Auch Expertenrat kann teuer sein.
Jeder Experte hat seine eigene Perspektive und man muß daher auch den Rat eines Experten kritisch abwägen.
Ein Experte, der einen schlauen Artikel über ein bestimmtes Uhrenmodell oder ein Buch über eine Marke schreibt, tut dies vielleicht in enger Anlehnung an eine Marke. Oder er besitzt eine gewisse Anzahl des Uhrentyps und möchte so deren Wert steigern / Nachfrage erzeugen.

Ich habe mir über die Jahre eine große Fachbibliothek zusammengetragen und hatte viele Uhren auf dem Werktisch und zahlreiche Einblicke hinter den Kulissen. Ich kam vom Sammeln in die Branche. Mein Blick auf Uhren hat sich dadurch stark verändert. Vieles, was ich früher gekauft habe, würde ich heute nicht mehr haben wollen (zum Glück passen ungliebte Armbanduhren dutzendweise in Schubladen). Mein "Haben wollen"-Gefühl hat sich ohnehin stark abgekühlt und sich häufig in eine "Schön, daß es das gibt"-Haltung gewandelt. Ein gut gemachtes Uhrenbuch gibt mir häufig mehr als eine Uhr.
noodle
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Re: Certina DS vs. Tissot Seastar (1960er)

Beitrag von noodle »

@Albert H. Potter: Vielen Dank noch einmal für deine ausführliche Antwort. Für mich als Uhren-Nutzer bestätigt deine Antwort, was ich bereits vermutet habe: Abseits der aufge- und überbewerteten Marken werde ich mein Glück wohl eher finden.

Im Sinne einer Zwischenstandsmeldung: Ich habe meine Netze ausgeworfen und schaue mal, welche Uhr(en) bei mir landen - ich melde mich, wenn ich "die Eine" gefunden habe. (Ist eine gute Idee, direkt mit einer Exit-Uhr weiterzumachen, oder? :) )
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Albert H. Potter
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Re: Certina DS vs. Tissot Seastar (1960er)

Beitrag von Albert H. Potter »

Viel Glück!
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