Was wäre wenn...

Allgemeine Diskussionen rund um Vintage-Uhren (Oldtimer)
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BernhardL
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Was wäre wenn...

Beitrag von BernhardL »

Was wäre wenn...

... wenn das Armband nicht an die Uhr dranerfunden worden wäre?

Tja, dann hätten wir heute vielleicht nur Taschenuhren.

Große und kleine Taschenuhren, dicke und dünne, runde oder längliche, natürlich m/ oder m/o (äh, mit/ oder mit/ohne) Deckel, Saphir hinten und vorne, Krone klassisch oben oder klassisch rechts, Datumsschnellverstellung, 2. und 3. Zeitzone...

Vielleicht wären sie nach wie vor aus Silber, diese Eisen. Vermutlich aber würden die großen Stückzahlen in Edelstahl gefertigt, denn die Werkstofftechnik wäre natürlich unabhängig fortentwickelt worden. Die gehärteten Gehäuse aber hätten sich vermutlich nicht durchgesetzt, schrappt man doch mit einer Taschenuhr in der Regel nicht am Rauputz entlang. Und Tissot hätte vielleicht auch Taschenuhren im Holzgehäuse gebaut. Aber ob Hayek eine TU in ein Kunststoffgehäuse gesteckt hätte? Dass die Krone EZM-links läge, wird wohl keiner ernsthaft annehmen, Professor Achilles hätte das für sinnlos und „unfunktional“ gehalten.

Sicher wäre der Schmuck- und Ornamentik-Besatz nicht mehr so vielprächtig, aber auf den Deckeln und Rückseiten prangten wahrscheinlich große Logos. Oder vielleicht auch kleine szenische Darstellungen moderner Eroberungen des Universums? Die Gehäuse schmeichelten in der Hand vermutlich nicht mehr gar so nett, sie hätten Fasen und Kanten und vielleicht hätten sie auch die Form eines Hexa-, Okta- oder Pentagons. Am Ende wären sie sogar mit dem Laser bearbeitet um Schattierungen und Anmutungen zu erzeugen oder Seriennummern zu branden. Und bei den Zeigern wäre ebenfalls die Entwicklung weg vom Schmuck zur Sachlichkeit zu beobachten gewesen, von ziselierten Goldzeigern über die gradlinigen Stahlzeiger hin zu Scheibenanzeigen und weiter noch zu allerlei experimentellen Fehlgriffen.

Weil an einer Taschenuhr ein Automatik-Aufzug abseits manch sporadisch auftretenden rhythmischen Verhaltens mangels kinetischer Einwirkung ja wenig sinnvoll ist, wäre er vermutlich auch nicht erfunden worden. Dafür hätte jedes Stück - da dann ja handaufzügig - heute eine Gangreserveanzeige und wäre damit – anders als bei der dann ja, wie gesagt, nicht erfundenen Automatik - 100% sinnvoll. Und die Gangdauer betrüge vermutlich auch einige Tage mehr, kein Wunder, bei dem reichlichen Raumangebot für ein Federhaus in einer 16-Linien-Schale.

Dass der Chronograph nach wie vor nur einen Drücker hätte, hielte ich für unwahrscheinlich. Anhand der guten alten Turnhallen-Stoppuhr kann man ja sehen, dass ein 3-Drückerprinzip ebenfalls über "oben" beherrschbar ist. Aber möglicherweise hätte es ja das Schisma der Stoppuhren aber auch gar nicht gegeben?

Durch das nach wie vor große Blatt - es gab ja keinen Grund 10''' zu entwickeln - gäbe es vermutlich Totalisatoren, die auch 60-jährige noch ohne Brille ablesen könnten. Aber die Emaille gäbe es wahrscheinlich nicht mehr, denn sie ließe sich nur knifflig mit Rennfahrerunterschriften bedrucken und auch den gelaserten Carboneffekt überstünde ein solch ehrwürdiger Schmelz vermutlich nicht. Und ob das Datum je eine Lupe gebraucht hätte? Wahrscheinlich wäre es Lange'sch-groß und nichts besonderes.

Das große Blatt und der viele Raum hätten vielleicht auch dazu geführt, dass auf weit mehr Uhren die Mondphase zu sehen wäre. Oder auch der Tidenhub. Oder vielleicht auch andere Anzeigen wie der Zeitpunkt der nächsten amerikanischen Präsidentenwahl (man weiß ja schließlich, wozu amerikanisches Marketing fähig ist!). Ästhetische Gründe hätten aber sicher zu einem Überleben der Regulatoren-Anordnung geführt, denn auch dafür wäre der große Blatt-Durchmesser geeignet genug.

Ganz sicher aber wäre, daß die Uhren viertel- oder halbstündlich einen wunderschönen Glockenschlag produzieren würden. Denn dann könnte die Uhr in der Tasche bleiben und das Zeitgefühl bliebe dennoch justiert. Amüsant ist dabei die Vorstellung, wie es aus allen Löchern und Ecken glockenhell klingelte - alle Stunde auf dem Messestand. Und vielleicht hätte es deswegen die 12-Ton-Musik nicht gegeben, weil ihr nichts avantgardistisches anhaftbar gewesen wäre? Aber vermutlich hätte jemand diese kleinen Walzen aus den Spieluhren in die Taschenuhr hinein konstruiert und man bekäme an den Tankstellen (oder im Abo) kleine Austauschwalzen mit den neuesten Hits. China hätte diesen Markt sicher dominiert und das vielleicht sogar schon vor 10 Jahren, als ohnehin aller billiger Plastik aus Hongkong kam.

Ob es Taucheruhren gäbe? Wasserdichte Taschen-Taucheruhren mit Drehlunette und Monsterzeigern auf orangenem Blatt? Gefüllt mit Öl? Und das ganze dann vielleicht in eine Halterung bajonettiert, die wie ein LKW-Außenspiegel vor der Taucherbrille hängt?

Überhaupt, die Unterbringung „am Mann“ (oder der Frau)? Noch ein Gerät ohne angestammten Platz, wo packte man das gut Stück nur hin? Gäbe es separate Taschen? Oder hinge uns ein Klotz am Hals? Vielleicht auch hätten wir heute ja auch alle eine Mode-Kordel an der Hose, die ihren Weg in eine der Gesäßtaschen findet (Prolovariante) oder vorne verschwindet. Vermutlich käme einem dann angesichts einer ausgebeulten Männerhosentasche weniger ein unbefriedigter als ein befriedigter Trieb in den Sinn (der Besitzerstolz könnte allerdings der gleiche sein).

Ach ja, das verkümmerte Taschenimitat in der Jeanshose, dieser Fingerbrecher auf der hektischen Suche nach einem nießfesten Taschentuch, dieser nietenbeheftete Stofffortsatz ohne Funktion, wäre größer und ausgebeult, wäre vermutlich bereits mit schützendem Lederbesatz gegen das Abwetzen mutiert. Vielleicht trügen wir alle aber auch einen kleinen Tornister samt Samtfutter in rot oder schwarz am Gürtel, in dem das Zeiteisen mit seinen ca. 200 Gramm wie eine Nuss in der Schale vor Außenschocks bewahrt würde?

Und vielleicht gäbe es auch Aufsatzschalen in verschiedenen Farben und bedruckt mit Mustern. Vielleicht sogar mit integriertem Gyromaster?

Sicher aber hätten wir anstatt Uhren-Beweger reihenweise Uhren-Ständer. So würde das schöne Stück auf dem Bürotisch stets einen angemessenen Platz einnehmen und die werte Kollegenschaft vom erlesenen Geschmack des Besitzers überzeugen. Und Batterien bräuchten wir für dieses Add-On auch nicht zu kaufen. Jedenfalls nicht in den einfachen Modellen, die sich nicht beginnen von selbst um 360° zu drehen, wenn das Hämmerchen die Klangspange döngelt.

Tja, so wär's vielleicht gekommen...

...vielleicht aber auch nicht.

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Mikrolisk
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Beitrag von Mikrolisk »

Prinzipiell stimmt ich Dir zu, bis auf ein paar Kleinigkeiten...

Den Automatikaufzug gab es bereits zu Taschenuhrzeiten im 18. Jahrhundert, lange bevor es Armbanduhren gab. Nur leider machte der damals, wie Du schon sagst, in Taschenuhren noch nicht so viel Sinn. Pellaton war also seiner Zeit voraus, seine Erfindung kam einige Jahre zu früh.

Eine Gangreserveanzeige ist kein Muß bei einer Uhr. Ja sie ist sogar eher selten anzutreffen bei Taschenuhren, denn man muß sie ja nur einmal am Tag aufziehen, wer das vergißt, der hat eben nur noch für wenige Stunden eine verläßliche Uhrzeit. Ist mit heutigen Handaufzugsuhren ja auch nicht anders.

Was die Gehäuseformen als Hexa-, Okta- oder Pentagon angeht, auch das gabs doch schon früher! Da kann man sogar recht weit in die Vergangenheit reisen, um neben der typisch runden Form auch welche mit Ecken anzutreffen! Nur wären heutzutage die Werkstoffe anders, damals wars erst Silber und Gold, später kam Eisen dazu, heute hätten wir dann auch Plaste, Platin, und was auch immer.

Was die Emaille-Zifferblätter betrifft: Sie verschwanden ja nur, weil sich Metallzifferblätter durchsetzen konnten und noch etwas preiswerter zu produzieren waren. Was man auf ein solches Zifferblatt nun draufschreibt, ist ja egal. Die damaligen Zifferblattmaler hätten auch Deine Unterschrift in bester Qualität aufs Blatt bekommen, so daß Du selbst nicht wüßtest, daß das nicht Du warst!

Was zusätzliche Komplikationen wie Chonograph, Repetition, Tide-Anzeigen oder Mondphase betrifft, guck Dir die heutigen Uhren an. Selbst bei Quarzuhren gibts diese Sachen nicht durchgängig, wobei es bei Quarzuhren wohl das einfachste wäre, einen Halbstunden-Schlag zu realisieren (per Piezo-Piepser). Auch bei Taschenuhren wäre das eine Frage des Preises und der unterschiedlichen Zielgruppen. Und Taschenuhren mit Musik gibts auch schon länger - kein normales 2-Ton-Schlagen, ich meine schon richtige Musik. Such mal nach Reuge-Taschenuhren.

Und wohin mit der Taschenuhr? Die Textil-Industrie hat auch dafür Antworten: In der Weste, ist ja klar, und in der Jeans in diese kleine rechte vordere Innentasche (die in der normalen Tasche). Die wurde extra dafür gemacht. Daß es paßt, merke ich täglich, denn in dieser kleinen Tasche trage ich Tag für Tag meine Taschenuhr. Die Uhr paßt da wunderbar rein und geht auch einfach wieder raus (ist eine 18-size Hamilton-Taschenuhr, kein kleines 40mm-Ding). Für die Dame gäbe es wohl auch heute noch Uhren, die sie sich an einer feinen Kette um den Hals hängen konnten.

Aber insgesamt eine interessante Betrachtung - wenn auch nicht ganz von Grund auf durchdacht :wink:

Andreas
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