FAQ: Temperatureinfluss auf den Gang

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Ralf
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FAQ: Temperatureinfluss auf den Gang

Beitrag von Ralf »

Die Sache ist sehr trickreich. Zwei Effekte spielen da miteinander: die Längenausdehnung, und die Veränderung der Elastizität. Im Prinzip dehnen sich alle Materialien aus, wen sie wärmer werden, ohne dabei die Masse zu verändern. Grösser bedeutet mehr Radius, mehr Radius mehr Trägheit und das wiederum langsamer. Genauso werden - im Prinzip! – alle Materialien weicher, wenn sie wärmer werden. Die selbe Folge: Wärmer – weicher – langsamer. Der Trick liegt in dem >im Prinzip<. Einige Materialien haben einen mehr oder weniger schmalen Temperaturbereich, in dem sie dem Prinzip nicht folgen. Zum Beispiel Wasser dehnt sich beim Abkühlen im Bereich unter 4°C aus, beim Wechsel in den festen Aggregatzustand sogar sehr, (Eis schwimmt oben!).

Bei der Uhr versucht man, ein Federmaterial, dass bei Raumtemperatur und leicht darüber härter anstatt weicher wird so mit einer Unruhe zu kombinieren, dass es deren Wärmeausdehnung ausgleicht. Das gelingt nicht immer, schon gar nicht perfekt. Beim einen Exemplar ist es etwas zuviel, beim anderen ist es etwas zu wenig. Zufall. Darüber hinaus: die Wärmeausdehnung der Unruhe ist sehr linear, wenig, aber linear. Die Änderung des Elastizitätsmoduls ist mehr so ein krummer Schlenker, alles andere als gerade. Das bedeutet, selbst wenn man zwei, bestenfalls 3 Punkte (= Temperaturen) hat, an den sich die Sache genau aufhebt, so ist doch die wegen der unterschiedlichen Krümmung die Kompensation für die anderen Temperaturen immer noch falsch. Diese nennt man Temperaturkoeffizient (TK) zweiter Ordnung oder sekundärer Kompensationsfehler ES, mit >erster Ordnung< ist der lineare Anteil des Fehlers gemeint, üblicherweise gemessen bei 8 und 38°C, bei der Chronometerprüfung primärer Kompensationsfehler C genannt.

BTW:
Ich hab aber noch ein paar Zahlen, und zwar von Nivarox S.A.. Diese bieten unterschiedliche Qualitätsstufen von Kombinationen Unruhefeder/Unruhe an. Je teurer, desto geringer ist die zugesagte maximale Abweichung (Heisst aber nicht, dass es bei niedrigeren Qualitäten schlecht sein MUSS! Dieser Umkehrschluss wäre falsch).

Nivarox I + Glucydur: ±0,6 s/d°C; ±3 s/d
Nivarox II + Glucydur: ±1,5 s/d°C; ±5 s/d
Nivarox III + Nickel: ±3,5 s/d°C; ±8 s/d
der erste Wert C ist der primäre Kompensationsfehler C = (M13 – M11)/30
der zweite Wert ES ist der sekundäre Kompensationsfehler ES = M1 - ((M11+M13)/2)
(das ist einfacher gesagt der y-Abstand der Gerade, deren Steigung durch C beschrieben wird vom Täglichen Gang bei 23°C)

Wenn der Temperaturkoeffizient erster Ordnung C kleiner ist heisst dass noch lange nicht, dass die Kompensation besser ist. Angesichts der in mitteleuropäischer Zivilisation üblichen Tragegewohnheiten wäre ein Koeffizient mit auf dem 23°C und dem 38°C basierendem Wert sogar praxisnäher, 18°C und 28°C wirklich sinnvoll, aber immer noch nicht hinreichend für eine wirkliche präzise Beschreibung des Messfehlers.

Weil der TK zweiter Ordnung, sozusagen die Krümmung vollkommen unabhängig von dem Wert erster Ordnung sein kann und weil die kleine Änderungen um ein paar Grad einen wesentlich höheren Anteil am üblichen Geschehen am Arm haben als Sprünge zwischen den Quasi-Extremwerten.

Eine Uhr
8°C: x-6 s/d
13°C: x-4 s/d
18°C: x-2 s/d
23°C: x s/d
28°C: x+2 s/d
33°C: x+4 s/d
38°C: x+6 s/d
wird sich in der Praxis nicht als weniger gangstabil zeigen, trotz C = +0,4 s/d°C als eine mit

8°C: y+3 s/d
13°C: y+1 s/d
18°C: y s/d
23°C: y s/d
28°C: y+3 s/d
33°C: y+6 s/d
38°C: y+12 s/d
die somit mit C = +0,3s/d°C spezifiziert, also nominell >besser< wäre.

Erst beim sekundäre Kompensationsfehler erkennt man den Unterschied:
Im ersten Fall ist ES = 0 s/d, im zweiten ist ES = -7,5 s/d.

Was ja schon öfters Thema war, dass sich >besser< oder >schlechter< nicht so einfach objektiv festlegen lässt, noch nicht einmal bei etwas scheinbar so simplen wie Temperaturkoeffizienten.

Die einzige sichere Aussage ist, dass die Kombination Unruhe - Spiralfeder unter dem unteren Punkt und oberhalb des oberen Punktes, an dem der Trick greift mit zunehmender Temperatur langsamer wird. Aber welchen Temperaturen diese Punkte entsprechen und was dazwischen passiert ist extrem zufällig und nicht vorherzusagen. Gute Uhren liegen dabei bei unter ±0,6 Sekunden pro Tag und ° Celsius für den TK erster Ordnung. Ohne den Trick wären es über 10 s/d°C!

Achtung: Bei sehr niedrigen Temperaturen kommt noch ein weiterer Einfluss hinzu: Das Schmiermittel. Das wird mit abnehmender Temperatur immer zäher. Unterhalb 0°C gehen Uhren üblicherweise langsamer, manche nur wenig, manche ziemlich heftig. Hängt halt von Art und Menge des Schmiermittels ab.



Bis auf die Definitionen des primären Kompensationsfehlers C und des sekundären Kompensationsfehlers ES habe ich hier auf Formeln verzichtet. Für diejenigen, die es genauer wissen wollen habe ich die Mathematik und die ingenieursmässige Theorie in einem PDF zusammengefasst und hier zum Download bereitgestellt.
Weil:
  • Es ist lang, richtig lang. 6 Seiten und 155kB
  • Es ist sehr wissenschaftlich und trocken
  • Ordentliche Kenntnisse in Potenzrechnung mit rationalen Exponenten sind Voraussetzung
  • Zur Erklärung sind viele Formeln notwendig, die hier nur als Pixelgrafik einzubinden wären
  • Die Meisten interessiert es gar nicht
Man liest sich!

Ralf
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