Zeitforscher im Interview
Darum leben Sie ohne Uhr besser
Termine, Stunden- und Fahrpläne: Alles Unfug, sagt der Zeitforscher Karlheinz Geißler. Die Pünktlichkeit habe ausgedient. Aber wie soll eine Welt ohne Uhren funktionieren? Von Peter Maxwill
14. Juni 2019
Karlheinz Geißler, Jahrgang 1944, ist Zeitforscher und war bis zu seiner Emeritierung 2006 Professor für Wirtschaftspädagogik an der Universität der Bundeswehr in München. Der Philosoph und Ökonom ist Mitgründer der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik sowie eines Instituts für Zeitberatung. Gerade erschien von ihm das Buch "Die Uhr kann gehen".
SPIEGEL: Herr Geißler, passt es Ihnen gerade?
Karlheinz Geißler: Natürlich, warum sollte es nicht passen? Wir waren ungefähr zu dieser Zeit verabredet, und so genau nehme ich es da nicht. Ich verabrede mich ohnehin nur für Zeiträume: Wenn Sie also 20 Minuten früher oder später angerufen hätten, wäre mir das völlig egal gewesen. Ich trage auch seit mehr als 30 Jahren keine Armbanduhr mehr.
SPIEGEL: Ernsthaft, Sie leben komplett ohne Uhr?
Geißler: Ja, zum Glück. Uhren sind nicht zum Tragen da, sondern zum Ertragen. Für mich hat das Konzept der Pünktlichkeit überhaupt keine Bedeutung.
SPIEGEL: Und das funktioniert? Sie sind Wissenschaftler, Teilhaber einer Firma, Buchautor und Mitglied diverser Gremien - solche Menschen haben für gewöhnlich unzählige Termine.
Geißler: Das klappt, wenn man will und wenn man sich einmal umgewöhnt hat. Ich lebe seit Jahrzehnten so, inzwischen habe ich wieder ein ganz natürliches Zeitgefühl - und die Uhr quasi im Blut. Man achtet zum Beispiel auch mehr auf äußere Zeitsignale: den Sonnenaufgang, das Läuten von Kirchturmglocken, die eigene Müdigkeit.
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Karlheinz Geißler:
Die Uhr kann gehen
SPIEGEL: Sie kommen pünktlich zu Terminen, weil Sie die Zeit erspüren, ernsthaft?
Geißler: Ernsthaft. Ich komme natürlich oft zehn Minuten zu früh oder zu spät - aber das ist im Universitätsbetrieb ja ganz normal und könnte auch für den Rest der Gesellschaft funktionieren. Und ich bin schon heute kein skurriler Einzelfall mehr.
SPIEGEL: Ich kenne niemanden, der so lebt wie Sie.
Geißler: Sie irren sich, glauben Sie mir: Wir haben es mit einer gesamtgesellschaftlichen Verschiebung zu tun. Zum Beispiel tragen immer weniger Menschen Armbanduhren, das belegen auch Studien.
SPIEGEL: Liegt das nicht vielleicht daran, dass fast jeder ein Smartphone hat, das auch als Uhr fungiert?
Geißler: Aber niemand blickt wegen der Uhrzeit so oft aufs Handy wie auf eine Armbanduhr. Es ist längst vieles wichtiger, als auf die Uhr zu achten. Da bilden lediglich Luxusuhren eine Ausnahme.
SPIEGEL: Wie bitte, ausgerechnet teure Uhren bleiben?
Geißler: Ja, weil der Uhr dasselbe Schicksal droht wie dem Segelschiff oder dem Pferd: Einst unersetzbar, entwickelt sie sich zum überflüssigen Schmuckstück und Sammlerobjekt. Sie wird nutzlos, deshalb rarer - und schließlich sehr teuer. Das ist ein Nebeneffekt vom Ende des Diktats der Uhr. Wir sind Zeugen des Endes einer Ära.
SPIEGEL: Sie denken in erstaunlich großen Dimensionen. Warum genau werden Uhren denn überflüssig?
Geißler: Die Uhr war das maßgebliche Instrument im Zeitalter der Industrialisierung, als unsere Gesellschaft sich vor allem über Schnelligkeit beschleunigt hat - bis hin zu Überschallflugzeugen. Jetzt leben wir aber im Zeitalter der Digitalisierung, und da geht es nicht mehr um das perfekte Hintereinander-Takten, sondern um Zeitverdichtung, um die Koordinierung mehrerer Arbeitsschritte gleichzeitig. Da hilft eine Uhr nicht weiter.
SPIEGEL: Warum nicht?
Geißler: Weil die Uhr eine Logik des Eins-nach-dem-anderen produziert, einen maschinellen Takt. In der neuen Ära der Gleichzeitigkeit müssen aber Dinge parallel ablaufen, es müsste also vier Uhr und ein Uhr gleichzeitig sein.
SPIEGEL: Das klingt schlimm, nach großem Stress.
Geißler: Das ist nicht schlimm, nur anders. Und die Uhrzeiterziehung ist ja völlig künstlich, die wurde uns anerzogen. Menschen leben eigentlich nicht im Takt der Uhr, sondern im Rhythmus der Natur. Sobald ein Kind zum ersten Mal in die Schule geht, wird es vertaktet - zu einem Uhrzeitmenschen. Und 80 Prozent der Deutschen lassen sich morgens von einem Wecker bevormunden. Das ist grausam, das ist Sadismus gegen sich selbst!
Karlheinz Geißler
Karlheinz Geißler
SPIEGEL: Aber die Einführung der Pünktlichkeit brachte der Menschheit doch auch Verlässlichkeit, Präzision, Produktivität?
Geißler: Und vor allem massiven Wohlstand. Aber diese Zeit ist eben zu Ende. Aus diesem alten Prinzip ist für uns heute kein Mehrwert mehr zu erzielen. Wachstum ist nur noch durch Vergleichzeitigung möglich. Die Uhr steht da im Weg, weil sie nur zu Standardisierung führt, nicht zu Flexibilisierung.
SPIEGEL: Konzepte wie Homeoffice oder Gleitzeit sind also die Zukunft?
Geißler: Genau. Deshalb war auch die Empörung so groß, als der Europäische Gerichtshof entschied, dass Firmen die Arbeitszeit ihrer Angestellten exakt erfassen müssen. Da haben die Arbeitgeber sofort protestiert und klargemacht: Das ist ein überkommenes Prinzip, wir brauchen Vertrauensarbeitszeiten. Klingt toll, birgt aber enorme Risiken.
SPIEGEL: Welche denn?
Geißler: Ausbeutung zum Beispiel. Zeitorganisation ist immer mit Macht verbunden, in diesem Fall würde die Macht der Arbeitgeber drastisch wachsen. Deshalb befürworten Gewerkschaften ja so sehr die Erfassung von Arbeitszeiten.
SPIEGEL: Wie könnte ein Kompromiss aussehen in einer Welt ohne Uhrzeit?
Geißler: Man kann Arbeitszeit erfassen, ohne sich sklavisch nach der Uhr zu organisieren. Wer flexibel arbeitet, kann ja trotzdem Feierabend machen und Überstunden abbauen - aber halt ohne starre Zeitvorgaben. In anderen Lebensbereichen ist das längst selbstverständlich geworden, beim Fernsehen zum Beispiel.
SPIEGEL: Wie meinen Sie das denn jetzt?
Geißler: Mein Vater zum Beispiel saß abends um acht vor dem Fernseher und hat die Uhr danach gestellt, wann die Nachrichten anfingen. Heutzutage ist es unmöglich, die Tagesschau zu verpassen. Wenn Sie wissen wollen, was in der Welt los ist, gehen Sie auf SPIEGEL ONLINE oder in eine Mediathek - zu jeder beliebigen Uhrzeit, wann es Ihnen passt. Dieses Prinzip gilt in immer mehr Lebensbereichen.
SPIEGEL: Für Busse und Bahnen gibt es nach wie vor minutengenaue Fahrpläne.
Geißler: Die haben aber wenig mit der Realität zu tun. Bei der Deutschen Bahn gibt es seit 30 Jahren eine Pünktlichkeitsoffensive, seit 30 Jahren ändert sich nichts. Ich glaube ja inzwischen, dass es ein geheimer Service der Bahn ist, unpünktlich zu bleiben. Weil die Menschen ja auch immer unpünktlicher werden.
SPIEGEL: Das ist nicht Ihr Ernst.
Geißler: Das ist mein völliger Ernst! Wenn ich von Frankfurt nach München fahren will, schaue ich nicht in den Fahrplan, sondern gehe zum Bahnsteig. Irgendwann kommt dann ein Zug, manchmal viel früher als erwartet, weil eine laut Fahrplan längst abgefahrene Bahn mal wieder Verspätung hat. Das nennt man Flexibilität.
SPIEGEL: Viele Fahrgäste sind nicht so flexibel wie Sie, der kollektive Zorn auf die Deutsche Bahn scheint jedenfalls nicht abzuflauen.
Geißler: Der Mensch ist eben nach wie vor auf Pünktlichkeit erzogen und empört sich deshalb gern über solche Dinge. Die Frage ist aber, wie man mit Wartezeit umgeht. Wenn Sie sich mal in einer Vielflieger-Lounge am Flughafen umhören, dann sagen die meisten: Die angenehmsten Tage sind die, an denen eine Maschine Verspätung hat.
SPIEGEL: Es bleiben aber doch Lebensbereiche, in denen es ohne feste Termine kaum geht. Stundenpläne in Schulen etwa lassen sich doch kaum abschaffen, oder?
Geißler: Warum denn nicht? Schüler werden gezwungen, sich an feste Uhrzeiten zu halten - später im Beruf müssen sie dann jedoch mit Gleitzeit umgehen.
SPIEGEL: Aber irgendwie muss doch ein komplexer Schulbetrieb mit oft Dutzenden Lehrern und Hunderten Schülern organisiert werden.
Geißler: In skandinavischen Ländern etwa gab es bereits Experimente mit gleitenden Anfangszeiten an Schulen. Da konnten und mussten die Kinder selbst entscheiden, wann sie lernbereit waren. Das ist für die Lehrer natürlich anstrengend und erfordert eine Umorganisation des Bildungsbetriebs, aber das sollten uns unsere Kinder wert sein. Ich fordere mehr Selbstständigkeit, Selbstbestimmung - und vor allem: Zeitsouveränität.
SPIEGEL: Zeitsouveränität, was ist das?
Geißler: Wir leben in einer Welt, die permanent Zeitsignale aussendet. Mein Körper teilt mir zum Beispiel mit, wann ich erschöpft oder hungrig, lernbereit oder arbeitsfähig bin. Die Frage ist, ob ich diese natürlichen Signale wahrnehme und mich danach richte - oder nach völlig abstrakten Uhrzeiten, die mit mir gar nichts zu tun haben.
SPIEGEL: Mein Gefühl sagt mir, dass wir unser Gespräch hier eigentlich beenden könnten.
Geißler: Meinetwegen, ich bin da ganz flexibel. Heute habe ich eh keine Termine mehr.
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