Die erste Krise der Schweizer Uhrenindustrie

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jeannie
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Die erste Krise der Schweizer Uhrenindustrie

Beitrag von jeannie »

Die Krise der Schweizer Uhrenindustrie mit dem Aufkommen der Quarzuhr war nicht die erste ernsthafte Krise die dieser Industriezweig durchmachen musste.

Bereits in letzten Drittel des 19. Jh. zogen dunkle Wolken über dem Jura auf: während die Schweizer Uhrenindustrie immer noch stark handwerklich organisiert war, mit einer starken Zersplitterung in Rhabilleure, Furnituristen, Cadranisten, Assemblierer und weiteren Berufen, vieles davon in Heimarbeit, vollzog sich in den USA fast unbemerkt eine industrielle Revolution: Obwohl viele Henry Ford als Pionier der Serienfertigung ansehen hat er nichts anderes gemacht, als was schon mehr als fünfzig Jahre vorher die us-amerikanische Uhrenindustrie einführte: die Herstellung technisch aufwendiger Produkte mittels standardisierter Konstruktionen und der entsprechenden standardisierten Teile.

Bis anhin gab es zwar Konstruktionszeichnungen, die Herstellung war aber immer noch handwerklich geprägt und vieles musste halt von erfahrenen Handwerkern "passend gemacht" werden. Die Idee, Teile in genau definiertem Mass herzustellen die dann ohne weitere Bearbeitung montiert werden konnte stand nicht am Anfang der Autoindustrie sondern war der Startschuss für die amerikanische Uhrenindustrie. Sie war jetzt in der Lage zu günstigen Preisen qualitativ gute Uhren zu liefern. Die Fabrikation war nicht mehr angewiesen auf ausgebildete Fachkräfte. So konnte der Bedarf an Arbeitskraft mit ungelernten Kräften gedeckt werden die für die einzelnen Arbeitsschritte schnell eingearbeitet werden konnten. Was die Schweizer Delegation an der Weltausstellung 1876 in Philadelphia sah war aus Sicht der Schweizer Uhrenindustrie erschreckend: genaue, robuste Uhren zu billigen Preisen, zu Millionen lieferbar.

Da die Schweizer Uhrenindustrie nicht so schnell eine industrielle Fertigung aufbauen konnten, um kommerziell den Amerikanern die Stirn bieten zu können suchten viele ihr Heil in der Einführung von Komplikationen. Diese Krise war der Auslöser für die vielen Eigenschaften für die die Schweizer Uhr berühmt wurde. Während die us-amerikanische Massenproduktion weiterhin einfache Uhren herstellte entwickelten die Schweizer technisch anspruchsvolle Zeitmesser: wasserdicht, Datum, Automat. Stoppuhr und manche andere technische Neuheit.

Während die amerikanische Uhrenindustrie weiterhin auf einfach und günstig setzte, setzte die Schweizer Uhrenindustrie auf ausgeklügelt. Mit steigendem Wohlstand verlangte der Konsument nach höherwertigen Uhren. Ein Bedarf der von Schweizer Uhren gedeckt wurde.

Dieses Renommee der technisch ausgefeilten Uhr färbte auch auf die günstigen Modelle ab. Simple ausgedrückt war auch eine günstige Schweizer Uhr eine "Swiss Watch", während auch teurere amerikanische Uhren halt "nur" amerikanische Uhren waren.
http://www.watchtools.ch Uhrenwerkzeug, direkt aus der Schweiz.
Phil51
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Re: Die erste Krise der Schweizer Uhrenindustrie

Beitrag von Phil51 »

Hallo Luigi

Danke, das du mit diesem Beitrag darauf verweist, dass die "Quartzkrise" nicht nicht erste Krise der schweizer Uhrenindustrie war.
Die Krisen der schweizer Uhrenindustrie sind beinahe ja schon selber so alt wie Uhren in der Schweiz überhaupt produziert werden.

Das Ganze begann ja eigentlich schon mit einer Krise, nämlich der Reformation.
Französischen Reformierten haben wir es zu verdanken dass sich das Uhrenhandwerk in der Schweiz niederliess.
Aber nicht ganz so unproblematisch wie man meinen könnte, denn Calvin war Schmuck bzw schmuckvolle Gegenstände ein Greuel in seinem puritanischem Verständnis und so zog es viele Uhrmacher (zB der bekannte Claude Bernard) gen Norden, in das jurassische Gebiet.

Eine erste richtige Krise ereignete sich in den 40er Jahren des 18. Jhrt abermals in Genf und zwar aufgrund dessen, weil die Arbeit der Ébaucheure (Ébauche = Rohwerk) damals noch als minderwertig betrachtet wurde. Ein Uhrwerk hatte damals einfach noch zu funktionieren, die Wertschätzung war gering.
Das "feine" und daher umso geschätztere Handwerk erledigten die Établisseure - die eigentlich Uhrmacher, welche die Uhren gestalteten, konzipierten und zusammenbauten. 1945 spitzte sich die Krise zu und die Stadt Genf verbannte die Ébaucheure vor die Stadt - die "Genfer Satzungen".
Daraufhin folgte ein beispielsloser Konkurrenzkampf zwischen dern Ébaucheuren, denn diese Praxis zwang sie zum Preisdumping.
Gefördert noch von einem gewissen Monsieur Japy aus Beaucourt. In den 70er Jahren des selbigen Jhrts zog er eine industrielle RohwerkFabrikation auf. Die erste seiner Art. Dies zog die Rohwerkpreise noch mehr nach unten. Der Aussstoss zu Beginn betrug jährlich 40'000 und steigerte bis 1813 bis auf 300'000 Rohwerke*
So wurden die Rohwerke noch vor den eigentlichen kompletten Uhren industriell gefertigt - und die Preise sanken und sanken.

Und nun kann man 1+1 selber zusammen rechnen : Während Rohwerke bereits in hohen Stückzahlen produziert wurden, aber die Uhren selber bis in's späte 19. Jhrt meist noch handgefertigt waren, ergab sich ein Überangebot an Rohwerken bzw ein unablässiger Preis/Konkurrenzkampf.
Dieser endete auch nicht, als die Arbeit vieler Établisseure industrialiert wurde (zu den ersten gehörten zB IWC und Eterna).
Der 1. Weltkrieg kam und die Situation beruhigte sich etwas, auch gerade weil manche Produzenten für die Waffenindustrie fertigten (zB Munition).
Als er vorüber war, sorgte ein erster grosser Zusammenschluss in der Uhrenindsutrie für etwas mehr Ordnung ("Schweizerischer Verband Rohwerkfabrikanten und Feinarbeiter") die aber nicht von Dauer war und es folgte eine erste grosse Entlassungswelle. Darafhin folgte 1924 der nächste grosse Zusammenschluss, die "Vereinigung der Uhrefabrikanten - fr. FH".
Und so ging es weiter, der Börsencrash und folgende Weltwirtschaftskrise kam, es folgten weitere Zusammenschlüsse bis hin zur Gründung der ASUAG.

Sieht's man's über Ganze, so scheint's als sei die Geschichte der schweizer Uhrmacherei von Krisen durchzogen.
Und tatsächlich wähnten die "goldenen Zeiten" verhaltnismässig kurz und immer wieder musste man sich aufraffen. Und selbst in manchen "goldenen Zeiten" gab's Misstöne wie etwa schlechte Arbeitsbedingungen, Lohnstreite, Verdrängungskampf usw.

Zum Einen : es kommt vlt auch von daher, dass sich traditionelle Uhrenfirmen mit möglichst langer Bestehenszeit rühmen.
Zum Anderen : das was als "traditionelle Werte" gefeiert wird, hat so manche dunkle Schatten und wenn wir die schönen Uhren ansehen, ist vieles Mehr Schein als Sein.
Es ist gut, wieder mal auch daran zu erinnern . . . :)


* Quelle : G.Brunner & Chr Pfeiffer-Belli "Armbanduhren" Verlag Ullmann
Hab' was ich will
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Alexander Strigun
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Re: Die erste Krise der Schweizer Uhrenindustrie

Beitrag von Alexander Strigun »

Hallo, danke für super Beiträge .
Billig/Krise zerstört auch unsere Kultur .
Mit freundlichem Gruß , Alexander .
Alles hat seine Zeit
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rank
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Re: Die erste Krise der Schweizer Uhrenindustrie

Beitrag von rank »

Interessante Lektüre, die beiden Berichte, danke Euch.
Gruß, Frank
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MCG
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Re: Die erste Krise der Schweizer Uhrenindustrie

Beitrag von MCG »

Habe letzthin einen weiteren Aspekt der Quarzkriese mitbekommen, den ich bisher nicht richtig wahrgenommenen habe.
Die Schweizer Kleingewerbler waren schlicht nicht fähig, in kurzer Zeit grosse Mengen an Quarzwerken zur Verfügung zu stellen.
Am Knowhow hats ja nicht gelegen, ganz im Gegenteil... Bei der Umsetzung happerte es dann - nicht zuletzt wegen dem Uhrenstatut, welches ja dem Schutz der Uhrenindustrie hätte dienen sollen, hier dann aber genau das Gegenteil bewirkte...
LG aus Mostindien - Markus
baghipapa
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Re: Die erste Krise der Schweizer Uhrenindustrie

Beitrag von baghipapa »

Bei der Quarzkrise half auch eine spezielle Denke der Uhrenindustrie mit:
Bis zur Quarzuhr waren exakt gehende Uhren immer teurer als andere. Ja, es galt bis dahin, je genauer, desto teurer. Demzufolge musste eine Quarzuhr, die ja alles an Genauigkeit übertraf, was es bis dahin gab, extrem teuer sein. So versuchte man logischerweise die ersten Quarzuhren aus Schweizer Produktion exklusiv und teuer zu verkaufen.

Alle anderen Produzenten (Amerikaner, Asiaten) nutzten die günstigen Produktionsmöglichkeiten und machten Genauigkeit massentauglich durch günstige Preise.

Und schon waren die Achweizer wieder in einer Krise.
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