Moin Guntram,
das mit den Schrauben ist eine lange Geschichte.
Als man die Möglichkeit erkannt hatte, daß man die Temperaturabhängigkeit eines Unruhsystems mit einer bimetallischen Unruh kompensieren kann, stieß man schnell auf die Unzulänglichkeit der schnöden Praxis gegeüber der schönen Theorie: Die bimetallische Unruh war nicht so gut reproduzierbar, daß man auf Einstellmöglichlkeiten verzichten konnte. Dieses Bild einer steinalten Chronometer-Unruh verdeutlicht es:
Mit der Justierschraube A kann man die Freuenz des Unruhsystems einstellen. Gelangt der Schwerpunkt der Schraube weiter nach außen, wird's halt langsamer. Dazu findet man mehrere dieser Schrauben auf dem Reif, meist vier bei einer zweiarmigen Unruh (hier drei, weil es eine dreiarmige Unruh ist). So kann man mit diesen Schrauben A nicht nur die Frequenz selbst einstellen, sondern auch die Unwucht der Unruh, also Lagefehler korrigieren.
Das Gewicht B ist auf dem bimetallischen Unruharm verschiebbar. Damit kann man den Einfluß der Temperatur auf die Frequenz einstellen, ohne die Frequenz selbst zu beeinflussen. Je weiter man das Gewicht in Richtung Ende des bimetallischen Arms schiebt, umso mehr Einfluß hat die Temperatur auf das Trägheitsmoment der Unruh, und damit auf die Frequenz.
Die Einstellmöglichkeit C lassen wir mal weg. Sie ist der ultimative Luxus und man sieht sowas so selten, daß man nicht wissen muß, wofür es gut ist.
Der nächste Schritt ist in diesem Bild zu sehen:
Hier erkennt man links unten in der Nähe der Speiche eine Schraube, deren Kopf nicht auf dem Unruhreif sitzt. Davon gibt es bei dieser Unruh vier, und wer genau guckt findet drei davon - die vierte ist verdeckt. Diese Schrauben haben die Funktion wie im ersten Bild für A beschrieben. Das Gewinde klemmt etwas, damit die Schrauben sich nicht von allein verstellen.
Die Funktion der verschiebbaren Gewichte B wurde hier einfacher realisiert: Es gibt im Unreif mehr Gewindebohrungen als Schrauben, und so kann man einzelne Schrauben auf dem Unruhreif versetzen, um die Temperaturabhängikeit zu beeinflussen. Sitzen die Schrauben weiter am Ende des bimetallischen Arms, passiert das gleiche wie beim entsprechenden Verschieben des Gewichts B weiter oben.
Irgendwann kam man durch Fortschritte in der Metallurgie auch ohne die teure bimetallische Unruh klar. Damit verloren die Schrauben sämtliche Funktionen. Aber die Menscheit hatte sich daran gewöhnt, daß eine gute Uhr eine Schrauben-Unruh hatte, also blieben die Schrauben - bei besonders teuren Uhren bis heute.
Immerhin, ein wenig praktisch waren sie doch: Eine Uhr ohne Stoßsicherung bekommt schon durch einen verhältnismäßig harmlosen Stoß einen Lagefehler von einigen Minuten. Den kann man durch Hinzufügen und Wegnehmen von Gewicht an der richtigen Stelle wieder korrigieren. Ohne Schrauben steht man vor der Situation des wackelnden Tisches: Siebenmal abgesägt und immer noch ist ein Bein zu kurz. Mit Schrauben hat man auch die Möglichkeit, Gewicht zuzufügen, etwa durch winzige Unterlegscheiben unter den Schrauben.
Kurzum, die Schrauben waren zwar im Prinzip sinnlos, aber doch irgendwie noch praktisch. Und so ist es kein Wunder, daß sie erst endgültig verschwanden, nachdem Uhren flächendeckend mit Stoßsicherungen versehen wurden. Da muß nach einem Stoß nix mehr ausgewuchtet werden, und der letzte kleine Sinn der Schrauben ging über die Wupper.
Gruß, Roland Ranfft
Die Justierschraube