Radlager?

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Roland Ranfft
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Radlager?

Beitrag von Roland Ranfft »

Moin Kinnings,

wegen des geballten Sachverstands in diesem Forum möchte ich ein Werk zur Diskussion stellen, das dem Wort "Radlager" eine völlig neue Bedeutung verleiht, nämlich ein Lager bis unters Dach voll mit Rädern.

Ich bekam das Werk geschenkt, ein Buser 140, kaputt aber dennoch ein wenig Schrauberei zur Untersuchung wert:
http://www.ranfft.de/cgi-bin/bidfun-db. ... &Buser_140

Bild Bild

Erstes Stutzen: Nur ein Decksteinplättchen und trotzdem 21 Steine? Aber auf den zweiten Blick sieht man mehr Lochsteine als üblich. Also die zwei Kloben abgeschraubt und schon war die Überraschung perfekt:

Bild

A: Minutenrad,
B: Kleinbodenrad,
C: Noch'n Rad,
D: Noch'n Rad,
E: Zentralsekundenrad
F: Noch'n Rad,
G: Ankerrad
Wenn das kein Radlager ist, dann doch wenigstens eine imposante Rädersammlung.

Die drei zusätzlichen Triebe mit Rädern machen das Werk nicht besonders flach, sorgen für zusätzliche Reibungsverluste, und sie lassen wenig Platz für eine große Unruh und ein großes Federhaus. Man fragt sich einfach: Was hat der Entwickler geraucht, und wo bekommt man das.

Also die Frage an den versammelten Fachverstand: Weiß jemand, ob es vernünftige Gründe für diese Konstruktion gibt, oder wenigstens einen unvernünftigen?

Gruß, Roland Ranfft
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http://www.ranfft.de/cgi-bin/bidfun-db. ... fft&&2uswk
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hermann
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Re: Radlager?

Beitrag von hermann »

Hallo

Ich kann mir nur einen Grund denken - eventuell der Versuch die Luft für den Sekundenzeiger zu minimieren..... irgendwie.....?

Gruß hermann
Bild
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Heinrich
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Re: Radlager?

Beitrag von Heinrich »

Hallo Roland, schön mal wieder etwas von dir zu lesen.

Offensichtlich hatte der Konstrukteur sich die Aufgabe gestellt, die Zentralsekunde im Kraftfluss zu haben. Um zu beurteilen, ob sein Konzept wirklich so ungeschickt war, müsste man also mal schauen, wie andere diese Aufgabe bei einem Werk mit Zentralsekunde gelöst haben.

Viele Grüße
Heinrich
Richard Habring
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Re: Radlager?

Beitrag von Richard Habring »

Servus die Herren

Ich denke nicht, dass diese eigentümliche Konstruktion nur darauf abzielte die Zentral-Sekunde in den Kraftfluss zu kriegen.
Das hätte man leichter und mit weniger Aufwand hinbekommen.

Was konstruktiv auffällt ist:
1. Die Triebe haben ungewöhnlich hohe Zähnezahlen. Üblich wäre 6 - bis 10; hier haben wir 12 und 16 (soweit ich das in den Bildern abzählen kann) Das führt dazu, dass man zusätzlich Räderpaare benötigt weil man die sonst üblichen Übersetzungsverhältnisse von 1:8; 1:7,5 und 1:10 bzw. 1:12 nicht so einfach hinbekommt ohne dabei riesige Räder zu erhalten.
2. Die Zahnform der Räder sieht fast nach Evolvente aus, der schmale Zahngrund ist auffällig. Normalerweise wäre der ca. 50% der Teilung (NHS bzw. NIHS-Normen)
3. Das Ankerrad dreht "verkehrt", also andersrum als üblich. Das ist jetzt aber automatisch folge dessen, dass eben ein zusätzliches Rad-Trieb-Paar die Drehrichtung umkehrt.
4. Das Ankerrad war aber ursprünglich für Rechtslauf gemacht (siehe Abschrägung an den Zahnspitzen).
5. Der Anker (der Gabelstiel) ist ungewöhnlich lang, was dazu führt, dass der Anker weniger Winkelbewegung macht als sonst.
6. Das Räderwerk wirkt für die Größe des Werks ungewöhnlich kompakt. Bei einem Werk mit vergleichbarer Größe würden die Räder weit mehr Raum einnehmen.

Der einzige Vorteil den ich hier erkennen kann ist, dass der eigentliche Sekundentrieb nicht auf dem Sekundenrad E zu finden ist sondern stattdessen am Einschalterad D. Dadurch reduziert sich die Bauhöhe im Zentrum zumindest um diese eine Rad-Ebene (0,4 bis 0,5mm). Für mich sieht das aus wie der Versuch mal etwas anderes zu machen als damals (40er Jahre?) konstruktiv üblich war. Oder - das wäre mein heißer Tipp - man hat versucht ein bestehendes Patent (Zentralsekunde im Kraftfluss im durchbohrten Minutenrad) zu umgehen.

Noch als Anmerkung: Größer lässt sich das Federhaus in einem Werk solcher Größe mit zentralem Minutenrad nicht machen, da hat der Rest des Räderwerks nix mit zu tun.
Und bei der Unruh kommt's drauf an welches Trägheitsmoment sie hat. Größe - im Sinne von Durchmesser - ist kein Kriterium.

beste Grüße
Richard
P.S. Was mich interessieren würde wäre welche Gangreserve das DIng hat.
"Ich würd' es wieder tun!" Udo Jürgens
Roland Ranfft
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Re: Radlager?

Beitrag von Roland Ranfft »

Moin Richard,

einfach mal der Reihe nach:

1. Na ja, die hohen Zahnzahlen der Triebe sind nicht gottgegeben, sondern wählbar. Fest steht nur das Verhältnis zwischen Minuten und Sekunden.
2. Stimmt. Ich werde zwar nicht prüfen, wie exakt die Kurvenformen stimmen, aber die Zähne haben nach Augenmaß Evolventenform. Man kann ja leider nicht beides haben: Das verlustfreie Abwälzen der Zähne aufeinander bei der Zykloidenverzahnung und das konstante Drehmomentverhältnis der Evolventenverzahnung. Da Verluste im Räderwerk eine prominente Rolle spielen, ist die Anvwendung der Evolventenform zumindestens diskussionswürdig, besonders, wenn so viele Radpaare aneinander schubbern.
3. und 4. Stimmt, ist aber nicht der Grund für die vielen Räder.
5. Das täuscht. Es ist ein gerader Anker, also "ligne angulaire"
6. Klar, die vielen Untersetzungsstufen machen die Räder kleiner. Aber die Schlaumeier unter den Enwicklern bauen zusätzliche Räder ein, um deren Überschneidung mit dem Federhaus zu vermeiden, und so in einem flachen Werk ein größes Ferderhausvolumen zu erreichen. Aber hier überschneiden Sekunden- und Minutenrad nach wie vor das Federhaus. Also absolut nix gewonnen.
tourbillon69 hat geschrieben: Für mich sieht das aus wie der Versuch mal etwas anderes zu machen als damals (40er Jahre?) konstruktiv üblich war. Oder - das wäre mein heißer Tipp - man hat versucht ein bestehendes Patent (Zentralsekunde im Kraftfluss im durchbohrten Minutenrad) zu umgehen.
Das wäre denkbar. Das Kaliber taucht zwar frühestens 1955 in einem Werksucher auf (Offizieller Schweizer), aber eine Neuentwickling ohne Stoßsicherung deutet heftig auf die 40er Jahre oder gar früher. Und vielleicht gab's da wirklich Patente, die zu umgehen waren.
tourbillon69 hat geschrieben:Noch als Anmerkung: Größer lässt sich das Federhaus in einem Werk solcher Größe mit zentralem Minutenrad nicht machen, da hat der Rest des Räderwerks nix mit zu tun.
Jein, an der Höhe kann man schon etwas tun, wenn man die Räder aus der Mitte wegholt, und am Durchmesser, wenn man auch Triebe aus der Mitte wegholt und nur noch die dünnen Achsen dort läßt. Das alles gibt es ja in vielen Werken.
tourbillon69 hat geschrieben:Und bei der Unruh kommt's drauf an welches Trägheitsmoment sie hat. Größe - im Sinne von Durchmesser - ist kein Kriterium.
Auch jein. Das Trägheitsmoment wird von der Masse nur linear beeinfußt, vom Durchmesser aber quadratisch.
tourbillon69 hat geschrieben:P.S. Was mich interessieren würde wäre welche Gangreserve das DIng hat.
Ich war zu faul die zu bestimmen, weil die U-Welle kaputt ist. Also habe ich jetzt mal die Hemmungspartie entfernt, um die Gangreserve ungefähr zu bestimmen: Es sind 40 Stunden, also irgendwie durchschnittlich.

Ganz wertfrei ein Werk mit exakt der gleichen Triebfeder und direkter Zentralsekunde: Das Kasper 1400
http://www.ranfft.de/cgi-bin/bidfun-db. ... asper_1400

Bild

Kasper ist nicht wirklich historisch bedeutend und auch nicht der Zampano der Evolventenverzahnung. Stinknormaler geht es kaum und dennoch hat das Werk
einen kleineren Durchmesser (10,5''' statt 11,5'''),
eine kleinere Höhe (3,7 statt 4,3mm),
etwa die gleiche Gangreserve (41h),
und eine wesentlich größere Unruh.


Moin Heinrich,
Heinrich hat geschrieben:müsste man also mal schauen, wie andere diese Aufgabe bei einem Werk mit Zentralsekunde gelöst haben
Die meisten machen es so wie beim Kasper 1400 oben. Nachteil: Minuten- und Sekundenrad überschneiden das Federhaus, sorgen also für Bauhöhe. Aber genau das ist auch im Buser-Werk so.

Modernere Werke holen das Minutenrad aus der Mitte, so daß dort nur noch das Sekundenrad das Federhaus überlappt.
AS nimmt das Minuterrohr gleich mit, und bei diesem Werk sitzen Minutenrad und -rohr unter dem Kronrad:

Bild

ETA beläßt die Zeigerwerkreibung in der Mitte und rückt nur das Minutenrad heraus (rechts unten in diesem Bild:

Bild

Gruß, Roland Ranfft
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Albert H. Potter
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Re: Radlager?

Beitrag von Albert H. Potter »

Eine wirklich merkwürdige Anordnung. Roland beschreibt den Kraftfluß ohne Zweifel in der richtigen Reihenfolge.

Für mich stellt sich die Frage daher vom Sekundenrad ausgehend nach der Schlagzahl.
Wir wissen, daß sich bei Uhren mit klassischer Zeitanzeige ein Minutenrad einmal pro Stunde dreht und ein Sekundenrad einmal pro Minute.
Bei einer normalen Schlagzahl ist der Eingriff Sekundenrad Ankerrad für die Übersetzung ausreichend.
Hier gibt es aber ein Zwischenrad F bestehend aus Rad und Trieb, also eine zusätzliche Übersetzung.
Damit diese nicht zu groß ausfällt, sind die Zahnzahlen der Triebe erhöht.

Da eine Drehrichtungsänderung , durch die Gestaltung des Ankerrades nicht das Motiv der Anordnung mit einem Zwischenrad F sein kann, kann es nur um die Schlagzahl der Unruh gehen, unter der Voraussetzung, daß sich das Ankerrad einmal die Minute dreht.

Die Unruh macht aber nicht den Eindruck einer Unruh mit deutlich erhöhter Schlagzahl sie ist im Durchmesser groß und trägt Gewichtsschrauben und auch die Spirale paßt nicht zu diesem Eindruck.
Wenn die Unruh also tatsächlich mit 18000 Schlägen pro Stunde arbeitet, dann würde ich daraus folgern, daß sich das Sekundenrad nicht einmal pro Minute dreht. Das könnte dann der Fall sein, wenn ein Doppel- oder Dreifachzeiger auf einem Zifferblatt-Segment anzeigt. Durch Variation der Räder D, E und F könnte man die Drehgeschwindigkeit des Sekundenrades E entsprechend variieren.

Klingt das schlüssig?
Da ja einige hier schon die Zähne gezählt haben, ist jetzt die Rechnung nach doppelter oder dreifacher Drehgeschwindigkeit leicht zu machen. Ich spare mir das an dieser Stelle.

Gruß,
Peter
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Heinrich
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Re: Radlager?

Beitrag von Heinrich »

Albert H. Potter hat geschrieben: ...
Klingt das schlüssig?
Für mich nicht. Ich habe eben mal ein wenig in alten Patentschriften gestöbert. Mitte der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts bekam die Firma Cortebert mehrere Patente zum Thema direkt angetriebene Zentralsekunde erteilt. Eines der Patente findet augenscheinlich in dem Kaliber Cortebert 689 (und auch in späteren Cortebert Kalibern) Verwendung.

Bild

Aus meiner Sicht sollte man dieses Werk als Vergleich heranziehen, wenn man die Konstruktion des Buser 140 verstehen will. Das Problem bestand wohl bei den frühen Konstruktionen mit direkt angetriebener Zentralsekunde in der Überdeckung von Sekundenrad und Minutenrad mit einer ausgesprochen fetten Schraubunruhe. Dadurch war eine recht große Werkhöhe bedingt.

Der Konstrukteur des Cortebert 689 hat Abhilfe geschaffen, indem er einen kleinen zweiteiligen Kloben unterhalb des Minutenrades eingefügt hat, der das rückwärtige Ende der Achse des Minutenrades hält. Das Minutenrad konnte damit dicht unter dem Sekundenrad fliegend gelagert werden. Die Werkhöhe des Cortebert 689 betrug daraufhin nur 4.1 mm.

Dieser Weg war dem Konstrukteur des Buser 140 verbaut, weil Cortebert darauf ein Patent hielt. Daraufhin hat er offensichtlich sein Heil in einer Verkleinerung des Durchmessers von Sekundenrad und Minutenrad gesucht.

Bild

Sekundenrad und Minutenrad passen beim Buser 140 neben die fette Schraubenunruhe. Die Werkhöhe konnte der Konstrukteur des Buser 140 mit seiner eigenwilligen Lösung immerhin auf damals wettbewerbsfähige 4.3 mm begrenzen.

Soweit meine Sicht der Dinge.
Viele Grüße aus dem Rheinland,
Heinrich
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