Rotor explodiert

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Roland Ranfft
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Rotor explodiert

Beitrag von Roland Ranfft »

Moin Kinnings,

hier der mysteriöse Schaden einer Uhr mit frühem Felsa Bidynator:

Bild

Die Fakten:
Uhr ca. 75 Jahre alt,
verchromtes Gehäuse fast wie neu,
Werk wie neu (läuft sogar perfekt),
aber Rotor regelrecht explodiert.

Das Rotorgewicht, vermutlich Blei, ist durch und durch oxidiert, hat sich entsprechend ausgedehnt und das "Gefäß" im Rotor gesprengt.

Sicher, Blei wirkt als Opferanode und verhindert Korrosion bei Feuchtigkeit (die Hobby-Schipper kennen das), aber ein wenig Rost hätte man doch erwarten dürfen, weil die Bleianode letztlich verbraucht war. Aber tatsächlich ist alles blitzblank.

Kann sich jemand vorstellen, was da passiert ist? Chemie? Wunder? Aliens? Erdstrahlen? Mobilfunk-Smog?

Gruß, Roland Ranfft
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lottemann
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Re: Rotor explodiert

Beitrag von lottemann »

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Ralf
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Re: Rotor explodiert

Beitrag von Ralf »

Variante 1: Das war kein reines Blei, sondern eine dämliche Legierung. Stichwort "Interkristalline Korrosion". Nicht passenden Legierungs-Bestandteile fressen ich an den Grenzen zwischen den einzelnen Metallgittern gegenseitig auf. Hat Ähnlichkeit mit Zinkpest.

Variante 2: Bleifrass, auch als Bleipest (in Anlehnung an Zinnpest) bekannt. Blei bildet normalerweise mit dem dem Sauerstoff pur Bleioxid und mit Luftfeuchtigkeit Bleihydroxid. Das Kohlendioxid wiederum wandelt die in Bleicarbonat um, das ist eigentlich stabil, damit endet die Oxidation mit der dunklen Bleifarbe an der Oberfläche.

Schwefel oder Chlor kann in den Prozess eingreifen, da reichen minimalste Mengen, aber es dauert ewig lange, dann kommt es zum Bleifrass. Bekannter vom Paddeln hatte mich da mal drauf angesprochen, wohnt dort: http://wendland-net.de/post/bleifrass-i ... rgel-48225.

Bild

Die reden davon, dass schon das Eichenholz in der Nähe reicht, um das auszulösen, dann entstände Bleiacetat. Nass wurde die Orgel in der Kirche sicher nicht, mit Essig geht der Prozess dann auch relativ schnell. Aber seit 1740 ist ja auch schon länger her. Würde zu dem Alter von 75 Jahren passen.
Man liest sich!

Ralf
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hermann
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Re: Rotor explodiert

Beitrag von hermann »

Hallo

Wahnsinn!
Und ich hatte gedacht, alles in der Uhrmacherei schon gesehen zu haben! :D

Gruß hermann
Bild
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Roland Ranfft
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Re: Rotor explodiert

Beitrag von Roland Ranfft »

Moin Ralf,

bei all den genannten Möglichkeiten frage ich ich mich immer noch, wie eine ca. 2mm dicke Bleifüllung in einem sehr gut abgedichteten Gehäuse sich in nur 75 Jahren völlständig zersetzen kann. Und die nächste Frage ist: Waum blieb die Bleidichtung des Gehäuses völlig unversehrt, wie im Bild zu sehen.

Moin Hermann,
hermann hat geschrieben: 07 Mär 2017, 16:33 Und ich hatte gedacht, alles in der Uhrmacherei schon gesehen zu haben! :D
Eben, selbst das frühe Felsa 415 ist ja keine ultimative Rarität (außer bei ebay :mrgreen: ), und ich hatte gedacht. daß jemand sowas schon mal gesehen hatte. Das ganze ist durch und durch weißes Salz, und die dunklen Stellen im Bild sind nur die blanken Abdrücke von der Automatic-Platine.

Gruß, Roland Ranfft
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unnnamed
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Re: Rotor explodiert

Beitrag von unnnamed »

Auch mir noch nicht untergekommen und daher auch für mich interessant!
Gruß Bernd
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Ralf
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Re: Rotor explodiert

Beitrag von Ralf »

Roland Ranfft hat geschrieben: 07 Mär 2017, 18:53 Moin Ralf,

bei all den genannten Möglichkeiten frage ich ich mich immer noch, wie eine ca. 2mm dicke Bleifüllung in einem sehr gut abgedichteten Gehäuse sich in nur 75 Jahren völlständig zersetzen kann. Und die nächste Frage ist: Waum blieb die Bleidichtung des Gehäuses völlig unversehrt, wie im Bild zu sehen. ...
  1. Wir wissen nicht, was das Material wirklich ist, ausser, dass wegen der Dichte Blei drin sein sollte. Wieviel und was sonst noch ist offen. Solange kann eine Antwort immer nur eine Möglichkeit sein, aber kein endgültiges Urteil.
  2. Dass sich Dichtung und Rotormasse unterschiedlich verhalten verwundert mich überhaupt nicht. Die Dichtung ist sicherlich ein Zukaufteil, das man quasi "nach Katalog" zugekauft hat, während das Teil im Rotor kundenspezifisch auf Mass angefertigt wurde, von wem auch immer. Allein schon die Wahrscheinlichkeit, dass es der selbe Hersteller war ist gering, dass es die selbe Schmelze war gegen Null. Dazu sind die Anforderungen und die Herstellprozesse von Dichtung und Rotormasse zu unterschiedlich.
  3. Hab lange nachdenken müssen, wann und wo ich überhaupt mal eine in Händen hatte: Ja, vor über 30 Jahren, Stichwort Petromax. Bleidichtungen sind ziemlich aus der Mode. Ingenieurmässig ist sie mir noch nicht untergekommen, hab deswegen versucht nachzulesen, aber zur Legierung von Bleidichtungen finde ich nichts. Kann mir aber nicht vorstellen, dass da reines Blei zum Einsatz kommt, das ist IMHO zu duktil. Um ein gewisse Elastizität und Festigkeit zu erreichen brauchts sowas wie Antimon, Kupfer, etc. mit drin.
Man liest sich!

Ralf
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Frano
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Re: Rotor explodiert

Beitrag von Frano »

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Roland Ranfft
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Re: Rotor explodiert

Beitrag von Roland Ranfft »

Moin Ralf,
Ralf hat geschrieben: 08 Mär 2017, 12:16 Bleidichtungen sind ziemlich aus der Mode.
Na ja, es ist so ziemlich alles aus der Mode, was die Garantiezeit länger alls eine Woche übersteigt.

Bei Eterna gab's Blei bis Mitte der 50er Jahre, bei Alpina und Mido sogar (belegt) bis 1960. Da hatten selbsternannte Edelschmieden längst erkannt, daß der mit diesen Dichtungen verbundene Korrosionsschutz und das Jahrzehnte lange Funktionieren schlecht fürs Geschäft sind. Da wechselte man doch lieber auf Kunststoffe, die Wasser (und Schlimmeres) in homöopatischen Dosen durchlassen, und die auch mal fürs Fluten der Uhr, also zum Neukauf führen (also der Uhr, nicht der Dichtung).
Ralf hat geschrieben: 08 Mär 2017, 12:16...dass da reines Blei zum Einsatz kommt, das ist IMHO zu duktil
Das ist ja gerade das schöne am Blei. Die elastische Spannung wird vom Gewinde aufgebracht, und das Blei "fließt" dahin wo es gebraucht wird. Ich habe das vor langem mal bei einer Eterna aus den 50ern probiert: Direkt nach dem (mäßig festen) Zuschrauben war sie noch ein wenig undicht, und nach einer Woche war sie ohne weiteres Zutun dicht.

Gruß, Roland Ranfft
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Re: Rotor explodiert

Beitrag von nasowas »

Roland Ranfft hat geschrieben: 08 Mär 2017, 23:42 Direkt nach dem (mäßig festen) Zuschrauben war sie noch ein wenig undicht, und nach einer Woche war sie ohne weiteres Zutun dicht.
In einer Serviceorganisation geht sowas ja mal gar nicht, auch wenn's im Sinne von Dauerhaltbarkeit vielleicht besser wäre.

Benjamin
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Re: Rotor explodiert

Beitrag von Don Tomaso »

Roland Ranfft hat geschrieben: 08 Mär 2017, 23:42 ...
Ralf hat geschrieben: 08 Mär 2017, 12:16...dass da reines Blei zum Einsatz kommt, das ist IMHO zu duktil
Das ist ja gerade das schöne am Blei. Die elastische Spannung wird vom Gewinde aufgebracht, und das Blei "fließt" dahin wo es gebraucht wird. Ich habe das vor langem mal bei einer Eterna aus den 50ern probiert: Direkt nach dem (mäßig festen) Zuschrauben war sie noch ein wenig undicht, und nach einer Woche war sie ohne weiteres Zutun dicht.

Gruß, Roland Ranfft
Ist das so ähnlich wie mit Indium-Draht-Dichtungen? Indium ist ja überhaupt nicht elastisch, sondern "fließt" ebenfalls bei Raumtemperatur. Und ist netterweise bei 4 K auch noch dicht. :mrgreen:
Gruss

Thomas

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Re: Rotor explodiert

Beitrag von Thomas H. Ernst »

Frano hat geschrieben: 08 Mär 2017, 18:42ALIENS! :mrgreen:
Nee, muslimische Flüchtlinge. Frag mal den Trump: Look what's happened in Germany last week ... :mrgreen: :rofl:
Grüsse Thomas
Euer Board-Admin
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