Rein oder Nichtrein?

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10buddhist
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Rein oder Nichtrein?

Beitrag von 10buddhist »

Beim Besuch der Manufaktur von A. Lange & Söhne im vergangenen Jahr fiel mir der nahezu klinisch reine Zustand der Werkstätten auf. Damit möglichst wenig Staub in die Arbeitsräume gelangte, herrschte dort ein erhöhter Luftdruck, und selbstverständlich war an ein Betreten ohne Schutzkittel und Schuhüberzieher nicht zu denken.

Aber offenbar geht es auch anders:

„Wenn Besucher kommen, sind sie zunächst überrascht. Wenn man heute an Uhrmacherei denkt, stellt man sich ein steriles Atelier vor. Hier ist alles anders. Es riecht nach Altöl, nach Pfeifenrauch“, so Philippe Dufour in einer Reportage des SRF aus dem Jahre 2014:

ab 10’10“: https://www.3sat.de/gesellschaft/schwei ... t-100.html

Nebenbei: Eine wunderbare Reportage! :thumbsup: :D

Dass Neusilber-Platinen keine Fingerabdrücke verzeihen und Staubkörner nichts im Uhrwerk verloren haben, weiß ich spätestens seit der Revision meiner vor drei Jahren gebraucht erworbenen Lange 1 im Stammhaus, bei der sich herausstellte, dass das Gehäuse zuvor von einem besonders eifrigen und hoch qualifizierten Uhrmacher geöffnet und frisch geölt worden war – vermutlich im hauseigenen Fahrradkeller! :roll:

Nun bin ich seither bei Verkaufsangeboten mit beruhigenden Sätzen wie „Unser Uhrmachermeister hat alles geprüft!“ mehr als skeptisch und würde gerne wissen, wie „clean“ eine Uhrmacherwerkstatt denn tatsächlich sein sollte, damit die Funktionalität und Ästhetik des tickenden Schätzchens langfristig gewährleistet ist.

Über sachkundige Beiträge der Uhrmacher(meister)(innen?) hier im Forum würde ich mich natürlich ganz besonders freuen! :D
Gruß Jürgen

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unnnamed
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von unnnamed »

Die Werkstatt selbst muss kein Reinraum sein, das ist vor allem eine Frage der Sorgfalt des Uhrmachers.

In der Industrie läuft das halt wie in einem Mastbetrieb, da sind gute und weniger taugliche, aber egal,
die tragen alle bei. Und damit es wenig Ausschuss gibt muss halt alles schön vorgekaut und idiotensicher sein.
Wenn XY es nicht blickt und immer ein halbes Gramm Dreck mit einbaut, dann ist das halt scheiße und kostet
unnötig Zeit weil die Uhr nochmal zurück muss.

Ein Dufour der in seiner Höhle raucht und auch sonst ein kreatives Chaos hat, der schafft es doch schließlich
auch. Und das liegt eben auch an seinem Auge, seiner Wertschätzung und seiner Sorfgalt.

Welcher freie Uhrmacher hat bitte Überdruck im Raum? Zusätzlich noch eine Airflowbox auf dem Tisch
vielleicht? Keine Sau, das braucht nämlich kein Watz und hindert nur bei der Arbeit.

Aber - falls hier Industriemenschen sind, die können dafür sicher gute Argumente ins Feld führen :mrgreen:

Ich könnte bei Gelegenheit mal Bilder machen wie es in meinem Reich aussieht... vielleicht. Altbau, 3m hohe Decken,
einfachverglaste Fenster aus dem 19ten Jahrhundert mit entsprechender "Dichtheit", Parkett (oh Gott... :twisted: ),
Klimaanlage in jedem Raum (herrje), usw. Keine Ahnung wieso in meinen Uhren keine Pullis liegen :lol:

Industrie und Handwerk kannst du nicht vergleichen. Schau dir doch mal eine MB Vertragswerkstatt an, da kannst
du vom Boden essen. Und dann geh zu einem begnadeten Schrauber in seine ölverschmierte Höhle. Das eine sagt
so wie wenig wie das andere darüber aus was "nötig" ist um gut zu arbeiten.
Gruß Bernd
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lottemann
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von lottemann »

:thumbsup:
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Albert H. Potter
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von Albert H. Potter »

Es gibt unterschiedliche Bereiche einer Werkstatt, die unterschiedlich "clean" sind.
Generell ist es nicht eine Frage der Sauberkeit der Werkstatt, sondern eine Frage der Sorgfalt der Mitarbeiter.
Wie genau wird geprüft, bevor eine Uhr an den Kunden geht?

Wo poliert und mattiert wird, entsteht zwangsläufig Schmutz.
Natürlich muß da immer gut sauber gemacht werden, denn eine perfekte Politur verträgt keine Verunreinigungen.
Die Schleif und Poliermittel sollten gut voneinander getrennt werden.

Wo Teile hergestellt werden (Drehen/Fräsen) entstehen Späne. Diese müssen natürlich auch entfernt werden.

Wo Uhren in großen Stückzahlen gefertigt werden, entsteht auch der Schmutz in größeren Mengen.

Das ist alles eine Frage der Reinigung.
Kann man baulich schon eingreifen, daß sich Schmutz in der Produktion verteilt, dann hat man schon Vorteile.

Ich habe schon die Produktion von Lange besucht, als auch die Werkstatt von Herrn Dufour, die kann man nicht vergleichen.

Die Produktion von Montblanc und die von Montblanc(Minerva) unterscheiden sich schon fundamental.
Ich war im SAV von J-LC(Nürnberg) und bei AP(Wiesbaden), letztere hatten so eine Klimaanlage mit Überdruck und Sauerstoff-Anreicherung, erstere hatten einen elektrostatischen Apparat an den Montagetischen, der den Staub fangen sollte.

Eine Klinikatmosphäre macht sich schon gut, denn sie macht Eindruck auf Besucher.
Wenn die Leute von der Endkontrolle weniger beanstanden, ist das ebenfalls ein willkommener Effekt.
Aber selbst in Krankenhäusern sind Klinikatmosphäre und die Erkenntnisse über Hygiene keine Sache mit Jahrhunderten an Tradition. In der Produktion technischer Geräte ist die Entwicklung viel jünger, im Bereich des SAV sogar noch Windelphase.
Allerdings kann man auch auf dem Teppich bleiben.
Manchmal reicht es, wenn man ein Teil im Benzinbad abpinselt (Fussel weg /Staub und Späne weg).
Fertig!
Persönlich denke ich, daß eine saubere Atmosphäre allen Beteiligten hilft, sich am Riemen zu reißen und selbst auf Sauberkeit zu achten.

Bei Firmen, die regelmäßig Touren durch ihre Produktion veranstalten, gibt es solche und solche. Manche haben ein Signal für Mitarbeiter, daß heute "Kitteltag" Ist. Andere trennen die Bereiche der Tour von der tatsächlichen Produktion (z.B. AP inn Brassus), die Besucher haben meistens ohnehin keine Ahnung.... Wenn Besucher vom Fach kommen, geht es dann in ganz andere Bereiche, in denen dann oft die Werkplätze verdeckt werden - nicht wegen des Staubes, sonder wegen Betriebsgeheimnissen.

Man muß auch als Uhrmacher im kleinen Uhrengeschäft auf Sauberkeit achten, selbst beim Batteriewechsel/Kunde wartet.
Der Schmutz der aus manchen Armbändern fällt, oder der sich beim Öffnen eines Schraubbodens löst, reicht manchmal aus, um den Werktisch zu versauen. Wenn die Brösel ins Uhrwerk fallen, dann nützt die neue Batterie nichts.
Leider haben die angestellten Uhrmacher bei solchen Themen meistens wenig zu melden, egal ob beim Juwelier oder Hersteller angestellt.
Ich habe schon einen Arbeitsplatz gesehen, wo der Uhrmacher hinter dem Verkaufsraum ein kleine Nische hatte, die mit einem Vorhang abgetrennt war. Es war klar erkennbar, daß das mal eine Toilette war, das Waschbecken hing noch. Die Juweliere - vorne hui, hinten pfui...

Wenn der Uhrmacher "alles geprüft" hat, wurde die Uhr dazu in der Regel nicht geöffnet, da sollte dann auch kein Schmutz in die Uhr kommen. Aufziehen, Zeigestellen, Datum checken, Gangwaage (wer sowas hat), eventuell entmagnetisieren und WD-Test (ohne Garantie).

Was Deine Lange betrifft, so ist das häufig der Fall bei gebrauchten Uhren. Ein richtiger Service kostet richtiges Geld (wie Du jetzt wohl weißt).
Für den Verkäufer bedeutet das einen Verlußt an Marge, wenn eine Uhr einen ernsthaften Service erhält. Da muß aufs Billigste aufgehübscht werden.
Man kann schon froh sein, wenn zum Polieren das Werk aus dem Gehäuse genommen wird und es nach dem Polieren gereinigt wird. Das Glas bleibt dabei meistens drin, da man ja nicht weiß, ob die Glasdichtung noch etwas taugt.
Wenn dann das Uhrwerk draußen ist, lassen Händler dem Uhrwerk eine "kleine Revision" angedeihen.
Dabei wird nichts zerlegt, auch Zifferblatt und Zeiger werden nicht entfernt.
Die Platineoberflächen bekommen eine Trockenreinigung mit Rodico oder Rub-Off.
Die zugänglichen Lager werden nachgeölt.
Bei der besseren Variante der "kleinen Revision" werden der Unruhkloben mit der Unruh entfernt und in One-Dip-Spiralreiniger getaucht.
Ist die Uhr abgespannt, dann werden eventuell auch Ankerkloben und Anker tauchgereinigt.
Nach der Wiedermontage wird die Stoßsicherung geöffnet und das Lager geölt.
Auf der Gangwaage macht die Uhr damit ein deutlich besseres Bild als vorher.
Noch einmal WD-Test (vorsichtig, da die Dichtungen nicht gewechselt wurden).
Ggf muß das Glas nachgeklebt werden, wenn es beim WD-Test rausploppt.

Diese Behandlung ist bei Gebrauchtuhren-Händlern typisch.
Gerade bei Uhren, deren Hersteller ohnehin keine Ersatzteile (selbst Dichtungen!) rausgeben, ist das typisch.

Ich selbst würde nie eine Uhr als Restauriert oder Überholt von einem Händler kaufen.
"Gebraucht von Privat"/"Uhr steht" und aus der Beschreibung geht hervor warum, das ist der ehrlichere Kauf.

Peter
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unnnamed
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von unnnamed »

Albert H. Potter hat geschrieben: 06 Dez 2019, 18:16
Was Deine Lange betrifft, so ist das häufig der Fall bei gebrauchten Uhren. Ein richtiger Service kostet richtiges Geld (wie Du jetzt wohl weißt).
Für den Verkäufer bedeutet das einen Verlußt an Marge, wenn eine Uhr einen ernsthaften Service erhält. Da muß aufs Billigste aufgehübscht werden.
Man kann schon froh sein, wenn zum Polieren das Werk aus dem Gehäuse genommen wird und es nach dem Polieren gereinigt wird. Das Glas bleibt dabei meistens drin, da man ja nicht weiß, ob die Glasdichtung noch etwas taugt.
Wenn dann das Uhrwerk draußen ist, lassen Händler dem Uhrwerk eine "kleine Revision" angedeihen.
Dabei wird nichts zerlegt, auch Zifferblatt und Zeiger werden nicht entfernt.
Die Platineoberflächen bekommen eine Trockenreinigung mit Rodico oder Rub-Off.
Die zugänglichen Lager werden nachgeölt.
Hat zwar nichts mit der Eingangsfrage zu tun, kann ich so aber unterschreiben und ein Lied davon
singen. Wir kaufen gelegentlich mal bei Händlern, da ist dann meist nicht die Chance gegeben die
Uhren zu öffnen.
Und zu hause staunst du dann manchmal Bauklötze. Hübsch polierte Uhren, äußerlich gut und innen, Herr wirf
Hirn vom Himmel. Da hatte ich es schon erlebt, dass im Inneren alles voller Glassplitter war (Glas zwar
ersetzt, aber die Überholung hätte ernsthaft Geld gekostet), bei anderen Uhren kam die Aufzugwelle
als Rostbollen ohne Mühe komplett aus der Uhr (sowas kauft man dann natürlich gar nicht erst, die Uhr war
aber bspw. im Internet inseriert, die hätte jederzeit von jemandem online gekauft werden können :shock: ).

Sieht man tatsächlich relativ häufig, denn wie Peter schreibt mindert eine ordentliche Reparatur
die Marge. Und so gibt es denn etliche Schlawiner, die darauf verzichten, der Käufer sieht ja nur,
dass die Uhr läuft. Wer, wie wo und was genau, das sieht er nicht. Einem Teil der Händler geht es nur
ums möglichst schnelle Durchreichen der Ware und ein paar Scheinen Gewinn.

Das ist dann aber ein Händlerproblem und hat nichts mit der Reinlichkeit der Werkstatt zu tun. Und es
trifft natürlich nicht auf die ganze Branche zu.
Gruß Bernd
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10buddhist
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von 10buddhist »

Bevor ich die Dufour-Reportage gesehen und eure Gedanken dazu gelesen habe, dachte ich, die klinisch-sterile Fertigungsweise bei Herstellern wie Lange & Söhne sei gewissermaßen „state of of the art“. Nun weiß ich, dass es auch anders gehen kann, wenn der Uhrmacher die nötige Sorgfalt walten lässt; und: dass man besser keine Gebrauchtuhren kauft, wenn man nicht weiß, wer vorher die Finger drin hatte, und das weiß man ja fast nie.

Danke für eure interessanten und ausführlichen Beiträge!
Gruß Jürgen

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Albert H. Potter
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von Albert H. Potter »

Laß Dich nicht davon abhalten, gebrauchte Uhren zu Kaufen. Das macht doch viel Spaß.
Du mußt halt einen kritischen Blick auf die Uhr werfen.
Das geht oft auch bei Online-Auktionen.
Aber je begehrter die Uhr, je teurer die Preislage, desto mehr lohnt sich der Pfusch!
Da muß man dann doppelt kritisch sein, möglicherweise kann man dann mit guten Argumenten den Preis verhandeln.

Ich habe selbst vor zehn Minuten den Ebay-Zuschlag auf eine alte Uhr bekommen - ich kann es auch nicht lassen...

Kaufwütige Grüße,
Peter
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lottemann
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von lottemann »

Albert H. Potter hat geschrieben: 07 Dez 2019, 15:58 ...

Ich habe selbst vor zehn Minuten den Ebay-Zuschlag auf eine alte Uhr bekommen - ich kann es auch nicht lassen...

Kaufwütige Grüße,
Peter
zeigzeigzeigzeigzeigzeig :mrgreen: :whistling:
Richard Habring
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von Richard Habring »

10buddhist hat geschrieben: 06 Dez 2019, 16:27 Beim Besuch der Manufaktur von A. Lange & Söhne im vergangenen Jahr fiel mir der nahezu klinisch reine Zustand der Werkstätten auf. Damit möglichst wenig Staub in die Arbeitsräume gelangte, herrschte dort ein erhöhter Luftdruck, und selbstverständlich war an ein Betreten ohne Schutzkittel und Schuhüberzieher nicht zu denken.

Aber offenbar geht es auch anders:

„Wenn Besucher kommen, sind sie zunächst überrascht. Wenn man heute an Uhrmacherei denkt, stellt man sich ein steriles Atelier vor. Hier ist alles anders. Es riecht nach Altöl, nach Pfeifenrauch“, so Philippe Dufour in einer Reportage des SRF aus dem Jahre 2014:

ab 10’10“: https://www.3sat.de/gesellschaft/schwei ... t-100.html

Nebenbei: Eine wunderbare Reportage! :thumbsup: :D

Dass Neusilber-Platinen keine Fingerabdrücke verzeihen und Staubkörner nichts im Uhrwerk verloren haben, weiß ich spätestens seit der Revision meiner vor drei Jahren gebraucht erworbenen Lange 1 im Stammhaus, bei der sich herausstellte, dass das Gehäuse zuvor von einem besonders eifrigen und hoch qualifizierten Uhrmacher geöffnet und frisch geölt worden war – vermutlich im hauseigenen Fahrradkeller! :roll:

Nun bin ich seither bei Verkaufsangeboten mit beruhigenden Sätzen wie „Unser Uhrmachermeister hat alles geprüft!“ mehr als skeptisch und würde gerne wissen, wie „clean“ eine Uhrmacherwerkstatt denn tatsächlich sein sollte, damit die Funktionalität und Ästhetik des tickenden Schätzchens langfristig gewährleistet ist.

Über sachkundige Beiträge der Uhrmacher(meister)(innen?) hier im Forum würde ich mich natürlich ganz besonders freuen! :D
Auf die Gefahr hin, dass ich jetzt zum Partysprenger werde:

Wir waren vor Jahren vom ehemaligen japanischen Lange-Importeur beauftragt die Rückabwicklung des Lagers zu überwachen nachdem der Vertrag seitens Lange von heute auf morgen gekündigt wurde. Dabei ging's um knapp 400 Uhren die Lange nun zurückkaufen musste.

Diese Uhren waren entweder im Safe gelagert worden oder bei Händlern im Schaufenster gestanden. Lange schickte Inspektoren welche diese Uhren - nach Kontrolle jeder einzelnen - im 5 Kategorien einteilten. Von "neu" bis "getragen". Und jetzt dürft Ihr gerne raten wieviele von diesen neuen Uhren als getragen deklariert wurden?

Auch erinnere ich mich an Anrufe der Kollegen aus der Serviceabteilung in SH mit der Frage: "was bringst Du den Typen in XYZ bei Deinen Schulungen denn bei? Wir haben da einen 3711 zurückbekommen der von denen vergewaltigt wurde."
Auf die Idee, dass das ein Dritter war und die geschulten Jungs sich gesagt haben "das Ding greifen wir nicht an, das schicken wir so wie es ist nach SH!" darauf sind die Kollegen wohl nicht gekommen.

Ich persönlich würde jedem erfolgreichen freien Uhrmacher (nach dem BIO-Prinzip = Bin-In-Ordnung) deswegen mehr trauen als einer als Profit-Center ausgerichteten Serviceabteilung eines beliebigen Herstellers.

Auf der anderen Seite hab' ich noch irgendwo Bilder davon als ich mal "on tour" in einem 60cm Wandschrank-Werktisch eine Lange repariert hab.

Die Realität liegt irgendwo in der Mitte.

Beste Grüsse
Richard
"Ich würd' es wieder tun!" Udo Jürgens
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Albert H. Potter
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von Albert H. Potter »

Da geht es Dir jetzt um die Frage, wie neu eine "Neuuhr" ist und wie Hersteller und Händler damit umgehen.

Nach meiner Erfahrung ist es den Herstellern relativ egal, wie beim Händler oder der Boutique mit der Ware, die als neu verkauft werden soll umgegangen wird. Es gibt Vorschriften welcher Abstand zu anderen Marken in der Schaufensterdeko zu halten ist und werlche Uhren nicht beieinander stehen dürfen. Es gibt Vorschriften zur Werkstatt-Zertifizierung, aber keine Vorschriften über Klimatisierung eines Schaufensters oder UV-Schutz der Auslage. Wenn die Verkäufer im Sommer die Uhren aus der Auslage picken, die so heiß sind, daß man mit dem Vorlagetablett noch eine umständliche Extrarunde im Laden drehen muß, Kaffee, Produktbuch, Prospekt herbeikramt, nur damit die Uhr sich etwas abkühlen kann.
Wie gut tut das Ölen, Fetten, Dichtungen und Zifferblättern?
Ganz zu Schweigen von Lederbändern.
Jeder Uhrmacher kennt die Schaufensterbänder... (da gab es doch mal diesen Italo Western: "Tote faulen in der Sonne")
Ich glaube es war die Firma Corum, die sich als einziges mit dem Problem beschäftigt hat, und die Uhren mit geprägten Bändern fürs Schaufenster geliefert hat und für den Fall des Verkaufs ein Krokoband zum Austausch in der Box hatte. Diese Initiative wurde aus einer Reihe von Gründen eingestellt.
Bei der Firma Sinn (Direktvertrieb / Händleruhren sind Kommissionsware) hat man ein System, bei dem der Lagerbestand gekezeichnet ist, damit man bei Lagerstücken gegebenefalls ein Revision durchführen kann, um dem Kunden eine frische Uhr zu gewährleisten.

Wie Verkäufer mit Uhren umgehen, ist nochmal ein anderes Ding. Die sind eigentlich schlimmer als Sonneneinstrahlung.
Die teuren Stücke trifft es am Härtesten.
Da gibt es dämliche Schaufenster- und Vitrinendeko nach dem Motto: " Wer hoch daher dekoriert wird, soll tief fallen!"
Wir hatten eine 18K DaVinci mit ewigem Kalender und Schleppzeiger (Die Uhr ging später an einen Grauhändler...) reinbekommen, die gleich zum Wochenende dekoriert wurde.
Die Uhr kam im Schaufenster auf eine eigene erhöhte Ebene eines Schrägpräsenters.
Als ich Montag früh in die Werkstatt kam, bekam ich schon nach ein paar Minuten diese Uhr zur Überprüfung rein.
"Die Uhr ist runtergefallen..."
Im Laufe des Tages kam das Teil im zwei Stundenabstand in die Werkstatt, bis ich dann hoch in den Verkauf bin, um nachzusehen, ob die Verkäufer noch ganz klar sind. Eine Uhr, die schon im EK weit mehr als das Jahresgehalt eines Verkäufers kostet, so zu mißhandeln.
"Sie hätten mal am Samstag da sein sollen, da ist die Uhr noch viel öfter gefallen...."
Die Uhr war im Schaufenster auf einem mittelhohem Ständer dekoriert. Die einzige Uhr auf dieser Ebene.
Leider war die Uhr sehr schwer und fiel bei der Geringsten Erschütterung vornüber und auf die nächst tiefere Ebene des Schrägpräsenters, von dort gegen die Innenseite der Schaufensterscheibe, hinab zum Panzerrahmen und von dort noch einmal 10cm auf den Fußboden.
Es gab dann ein größeres Gezeter, daß an der Deko nichts geändert werden darf, bis am Donnerstag die Dekofrau wiederkommt, die das entscheiden muß. Ich habe erklärt, was es allein für eine Schweinearbeit sei, bei so einer Uhr die Zeiger zu setzen und daß es nicht die Lösung sein kann, die Uhr bis Donnerstag noch fünfzig mal fallen zu lassen. Bei der nächsten "Werkstatt-Überprüfung" der Uhr würde ich mir halt bis Donnerstg Zeit lassen.
Alternativ schlug ich vor die Uhr mitsamt ihrer schönen Box ins Schaufenster zu stellen, das unterstreicht den besonderen Charakter der Uhr und für die Nachdeko nimmt man einfach die Box aus dem Schaufenster klappt sie zu und verstaut die Uhr ohne weitere Schäden im Tresor. So wurde es gemacht.
Da sind wir schon beim Thema Nachtdeko. Die Versicherungen schreiben vor, wie hoch Nachts der Gesamtwert der Waren im Schaufenster sein darf und was ein einzelnes Stück maximal kosten kann. Ergo werden Nachts die wertvollen Stücke rausgeräumt. Die Stücke kommen in Beutel, die Beutel in Kästchen und diese in den Tresor.
Schon bevor ich Uhrmacher wurde, habe ich mir an Juweliersschaufenstern die Nase plattgedrückt so oft es meine Zeit erlaubte - wer hier kennt das nicht? Besonders spannend war immer das Wempe Schaufenster an der Frankfurter Hauptwache. Unter der Woche machte ich nach der Schule gerne noch einen abendlichen Uhrenrundgang. Da konnte man dann sehen wie die Verkäufer die Uhren für die Nachtdekoration herausholten. Erstaunlicherweise wurden dabei häufig extrem teure Uhren gemeinsam in den Beutel gesteckt. Ist doch egal, wenn die Teile etwas aneinander schubbern, die haben doch Brillis drauf, die können also nicht verkratzen....
Das ist dermaßen gängige Praxis, man glaubt es kaum. Das gilt vor allem für Geschäfte, die einen großen Teil des Warenbestandes im Schaufenster bevorraten. (Hier ist die gängige Meinung, das ein Passant nicht von alleine darauf kommt, daß ein Juwelier zB Trauringe führt, es sollten schon mindestens 700 Paar davon in der Auslage liegen, um das zu Beweisen.)
Es wundert einen also nicht, daß manche Neuuhr starke Lagerspuren aufweist.
Was mich wieder an eine Uhr erinnert, die wir für einen Grauhändler extra bestellt hatten. Das Teil nannte sich "Crazy Tourbillon" (WG/ mit Diamanten) und wurde aus der Marken-Boutique in Prag geliefert. Als das Teil da war, sah die Uhr aus, als hätten die Mitarbeiter der Boutique bei Minigolfspielen in der Mittagspause keinen Ball gehabt und einfach die Uhr genommen. Da waren solche Macken drin, daß die Uhr erst in den Service mußte und von dort weiter zum Hersteller ging. Da wurde dann ein neues Gehäuse angefertigt. Und schon nach einem 3/4-Jahr war die Uhr wieder bei uns...

Das Problem in dieser Branche ist, daß sich viele einen Scheiß um Uhren kümmern. Verkäufer und Juweliere, die voller Mißachtung an die Ware herangehen und deren primäres Handlungsmotiv ihre eigene Faulheit ist, gibt es haufenweise. Die Ausnahmen sind eher selten.

Ramponierte Grüße!
Peter
Richard Habring
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von Richard Habring »

@ Peter
Ich will Deine Geschichte nicht in Abrede stellen, denke aber - bestätigt durch eine gewisse Erfahrung - dass es doch einige Unterschiede zwischen Europa und Japan gibt.
So sind selbst unsere Uhren dort immer in Folie eingewickelt im Laden.
Abgesehen davon hab ich die Uhren ja auch kontrollieren dürfen.......
Was den durchschnittlichen Richemont (Swatchgroup etc.) - Entscheidungsträger aber nicht davon abhält alles über einen Kamm zu scheren.
Gruss
Richard
"Ich würd' es wieder tun!" Udo Jürgens
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MCG
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von MCG »

mittlerweile ist ja alles in Folie eingewickelt. Ich dachte immer, das sei wegen den Kunden. Ich hab jetzt verstanden, dass dies wegen den Verkäufern ist! :oops: :shock: :angry:
LG aus Mostindien - Markus
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Albert H. Potter
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von Albert H. Potter »

Aber ist auf Folie wirklich Verlaß?
Wir hatten einen Grauhändler, der sich säntliche Folien gesichert hat, die wir reinbekommen haben....

Daß die Dinge in Asien anders laufen, ist mir klar. Ich habe schon als Azubi die Asienkunden betreut, da ich der einzige war, der englisch parlieren wollte. Die mögen keine Uhren aus dem Schaufenster - wer könnte es ihnen verdenken?

Ich finde es gut, daß hier Leute mit unterschiedlichen Perspektiven Beiträge leisten.
In der Branche ist es sicher auch ein Problem, daß es für die Leute zu wenige Perspektivwechsel gibt. Viele koommen aus dem eigenen Laden nicht heraus und schmoren im eigenen Saft. Ich habe immer versucht, so viele Betriebe wie möglich zu besuchen.Uhrmacher, Juweliere, Hersteller und SAV.
Was vielen Händlern und Verkäufern fehlt, ist die Kundenerfahrung. In der Branche geht niemand in einen Laden und kauft eine Uhr, ein edles Schreibgerät, ein Silberbesteck. Wer sich sowas leisten möchte, feilscht mit dem Vertreter, oder ruft einen Bekannten aus der Branche an, der einem den gewünschten Artikel besorgt. Daher wissen auch nur sehr wenige, wie die guten Beispiele der Branche einen Verkauf ablaufen lassen. Wie es sich anfühlt auf eine Warteliste gesetzt zu werden, man bekommt ja jeden Krempel sofort.

Lieber Richard, ich finde Deine Einblicke sehr interessant. Ich sehe einige Parallelen bei uns, wenn ich Deine Abneigung zur R- und zur S-Gruppe lese. Auch wenn wir die Erfahrungen von unterschiedlichen Standpunkten gemacht haben.
Ich habe es gehaßt, wenn schnöselige Vertreter Unsinn verbreitet haben, wenn ich falsches Geschwurbel in Katalogen, Uhrenzeitschriften und Uhrenbüchern gelesen habe. Ich fühlte mich irgendwie angepißt, stellvertretend für mehrere hundert Jahre Uhrmacherei.
Das ist auf Dauer nicht gut, wenn einem Uhren und Uhrmacherei etwas bedeuten.
Ich habe die Konsequenz gezogen und die Branche verlassen. Ich arbeite jetzt in einem Ingenieurbüro für Elektrotechnik (mit einem Schwerpunkt auf der Entwicklung von Blockheizkraftwerken und dem andern Schwerpunkt auf der Entwicklung explosionsgeschützter Elektronik) und mache dort die CAD-Konstruktion der mechanischen Elemente. Das ist gut, weil mir BHKWs und Ex-Elektronik egal sind. Ich habe da keine Leidenschaft - anders als bei Uhren. Mit den Uhren bin ich natürlich noch verbunden.
Ich bin daheim besser ausgestattet als die meisten Juweliere. Eines meiner Hobbies ist es, interessante Uhrwerke zu vermessen und im Solidworks nachzukonstruieren. Ich lerne viel dabei. Nur für mich!
Du bist einen anderen Weg gegangen. Deine Variationen und Neuschöpfungen des Valjoux Themas sind spannend. Ich sehe aber immer wieder in Deinen Posts, daß Du mit den beidem Konzernen kollidierst. Ich wünsche Dir, daß Du mit all Deinen Konstruktionen und Zulieferern eine Autarkie erreichst, die es Dir ermöglicht, Dich emotional von diesen Gruppen zu lösen und nur noch lachend auf diese zurüchzublicken.

Das wollte ich schon lange mal loswerden. Habe gerade eine Flasche Winzersekt hinter mich gebracht und muß jetzt in die Kemenate.

Beschwipste Grüße!
Peter
Richard Habring
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Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von Richard Habring »

Lieber Peter
Vielen Dank für Deine offenen Worte! Ich schätze das sehr.
Ich kann Deine Intention, die Branche zu wechseln, sehr gut verstehen.
In der Tat kokettiere ich seit Jahren mit dem Gedanken was anderes, neues zu machen.
Ich bin aber noch nicht soweit, zu sehr hab ich noch Spass an dem was ich tue.
Was ich aber vor geraumer Zeit verloren habe ist die Motivation mir selbst und anderen was dabei vorzumachen.
Beste Grüsse
Richard
"Ich würd' es wieder tun!" Udo Jürgens
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stere
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Interessen: Hmm......vielleicht Uhren ? :-)

Re: Rein oder Nichtrein?

Beitrag von stere »

...nur mal interessehalber: Es wird von den Schnöseln des S- und R-Konzerns berichtet... wie ist das mit denen von LVMH? Auch so oder sind die anders? :shock:

stere
"If you think you are too old to rock'n'roll then you are!" Lemmy
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